Wege in den Hunger. Welternährungssystem und Kolonialerbe

Alfred Holzbrecher

 

7. Wege in den Hunger

 

„Wege in den Hunger“ lautet eine Zwischenüberschrift in der bereits mehrfach zitierten „Kulturgeschichte des Essens und Trinkens“ (Paczensky/Dünnebier 1999: 368 ff), - irritierend, liest man doch häufig die Formulierung, die Auswege zeigt. Paczensky und Dünnebier zeigen zunächst an mehreren Beispielen der letzten Jahrtausende, dass Hunger immer auch politische und kulturelle Ursachen hatte – trotz der vielen klimabedingten Missernten.

 

So rechnet man, dass im antiken Griechenland (zw. 403 und 323 v.Chr.) jedes 6.Jahr eine Hungersnot herrschte, im alten Rom ((zw. 509 und 384 v.Chr.) jedes neunte Jahr (Paczensky/Dünnebier 1999: 371). Menschliches Verschulden oder Versagen kann viele Formen annehmen: Einmal sind es die Spekulanten, die z.B. Mitte des 19. Jahrhunderts in Mainz fast allen Roggen aufgekauft hatten und damit den Brotpreis in die Höhe jagten. Dann gilt natürlich, dass nur, wer nicht von der Hand in den Mund leben musste, die Möglichkeit hatte, größere Mengen an Nahrungsmitteln zu lagern: Nur dann war man von Marktschwankungen unabhängig und konnte auch magere Jahre überstehen und anderen helfen – oder sie dann abhängig machen. Im Mittelalter waren dies v.a. die Gutsherren und die Klöster. Ein dritter Grund sind strukturelle Abhängigkeiten, z.B. der irischen Bauern von englischen Großgrundbesitzern. Und in erweiterter Form finden wir solche Abhängigkeiten seit der Kolonialzeit auf weltweiter Ebene.

 

Gehen wir zunächst einmal wieder ins 19. Jahrhundert, wir hatten ja bereits festgestellt, dass dies eine Zeit großer politischer, gesellschaftlicher und technologischer Umwälzungen war, die zu großen Hungerkrisen und Migrationswellen geführt hatte. Die Grafik zeigt sehr anschaulich, dass vor allem die USA, aber auch Südamerika die Hauptzielregionen der europäischen Auswanderer waren. Man kommt an der sog. „Amerikaner-Eiche“ vorbei, wenn man im Naturschutzgebiet „Taubergießen“ nördlich vom Kaiserstuhl wandert (Gießenweg): Hier trafen sich Mitte des 19. Jahrhunderts die Auswanderer aus dem Schwarzwald, um aufs Schiff Richtung Chile oder Venezuela zu steigen ( www.kaiserstuhl.eu ). Und an der Rheinstraße in Whyl steht der sog. Tovar-Gedenkstein in Erinnerung an die Auswanderer, die im venezolanischen Tovar ihre neue Heimat gefunden haben.

 

„Das 19. Jahrhundert ist eine Zeit von Missernten, Krisen und Not. 1816 sorgt Vulkanasche aus Indonesien für ein 'Jahr ohne Sommer' und in den 40er Jahren überzieht die Lebensmittelfäule ganz Europa. Die Lebensmittelpreise steigen, Menschen hungern, Großbauern und Spekulanten profitieren. Regionen wie der Schwarzwald, wo es auch in guten Erntejahren nie üppig zuging, sind besonders betroffen.

In den Elendsjahren nach dem Scheitern der Revolution erreicht die Massenauswanderung einen Höhepunkt. Oft helfen Gemeinde und Kirche mit kräftigem Druck nach: Wer nicht auswandern will, dem wird die Armensuppe verweigert wie 1851 in Herrischried, das 560 Menschen nach Amerika verschickt, Kleinkinder nicht mitgerechnet. Natürlich will man bei dieser Gelegenheit besonders auch 'schwarze Schafe' wie die vielen ledigen Mütter loswerden, deren hohe Zahl allerdings nicht, wie Victor von Scheffel meint, von mangelnder 'Sprödigkeit des Weibervolks' herrührt: Viele Menschen sind zu arm zum Heiraten" (Huth 2013: 124)

Unzählige deutsche Ortsnamen im amerikanischen Mittelwesten wie auch in Chile oder Brasilien zeugen von den drei großen deutschen Einwanderungswellen im 19. Jahrhundert.[2]

 

Die deutschen Siedler etwa in Chile bauten ihre Siedlungen so, wie sie es aus ihrer Herkunftsregion kannten, so dass man heute als Tourist – wie hier in Frutillar in Südchile – den Eindruck hat, man befinde sich im Hochschwarzwald.

 

Bei Festen kann man auch deutschen „Kuchen“, Schwarzwälder Kirschtorte oder auch „Streuselkuchen“ kaufen, für die Einheimischen kaum aussprechbar, aber immer noch populär… Speziell in Chile wurden die deutschen Siedler im 19. Jahrhundert direkt vom Staat angeworben, vor allem um die Region landwirtschaftlich zu erschließen, das Ureinwohnervolk der Mapuche zurückzudrängen und geostrategisch ein Bollwerk gegen das benachbarte Argentinien aufzubauen.

 

 

Die „Irische Tragödie“ steht exemplarisch für Abhängigkeit – einerseits von der Monokultur Kartoffel, andererseits von englischen Großgrundbesitzern. Monokulturen ermöglichen zwar eine rationellere Produktion durch großflächigen Anbau, sind aber extrem anfällig für Krisen jeder Art, wie viele Beispiele auf der ganzen Welt und besonders im Globalen Süden zeigen. In Irland vernichtete 1845/46 die Braunfäule die gesamte Kartoffelernte. Darunter litten auch die Bauern in ganz Europa, aber auf dem Kontinent konnte man auf andere Nahrungsmittel zurückgreifen, eine gewisse Diversität war die Rettung. Irland war dagegen zur englischen „Agrarkolonie“ gemacht worden, die englischen Großgrundbesitzer setzten beispielsweise durch, dass kein Ire bzw. Katholik Land kaufen durfte, der eigene Export von Rindfleisch war ihnen verboten, und im Erbrecht war etwa geregelt, dass beim Tod eines katholischen Bauern der Besitz auf alle katholischen Söhne aufgeteilt wurde, jeder also nur ein kleines Stück Land bekam, kaum überlebensfähig. „Nur wenn der älteste Protestant wurde, erbte er alles“ (Paczensky/Dünnebier 1999: 383).Die Vernichtung der Kartoffelernte führte unter solchen Bedingungen dazu, dass eine Million Iren an Hunger starben, eine weitere Million wanderte aus.

 

 

Was wir am Beispiel Irlands im Kleinen sehen, war seit den europäischen Eroberungszügen ab dem 15. Jahrhundert zu einem Grundmuster kolonialistischer Politik geworden: Nach der militärischen Inbesitznahme kamen die Handelskompanien, die sich Monopole sicherten, abgesichert durch die Kolonialmacht. Nach der Entwaffnung der unterlegenen einheimischen Mächte sicherte die Einführung spezieller Steuern und rechtlicher Bestimmungen den Aufbau einer Verwaltungsstruktur und eine Umformung der bestehenden Gesellschaft in eine Kolonie. Ihre Struktur war zumeist ausgerichtet auf die billige Produktion von Rohstoffen, deren lukrative Weiterverarbeitung in Europa erfolgte. „Die koloniale Welt wurde in Produktionszonen für europäische Großunternehmen aufgeteilt – besonders radikal von den Franzosen, die beispielsweise im Senegal am liebsten nur Erdnüsse sehen wollten und andere Gebiete jeweils für Sisal, Palmöle, Kakao und Baumwolle bestimmten“ (Paczensky/Dünnebier 1999: 395f.).

 

Es etablierte sich der sog. „Dreieckshandel“: mit billigem Schmuck etc. kauften die europäischen Kolonisatoren in Afrika Sklaven, die nach Süd- und Nordamerika verschifft wurden, um dort auf Plantagen von spanischen, portugiesischen oder französischen Großgrundbesitzern Baumwolle, Zucker, Kaffee, Tee …. zu produzieren, sog. „Kolonialwaren“, die dann von großen Handelsgesellschaften nach Europa transportiert, dort weiterverarbeitet und verkauft wurden.  

 

 

Kaffee und Zucker, diese beiden Produkte wurden von den Kolonisatoren großflächig in mehreren Teilen der Welt angebaut und von aus Afrika stammenden Sklaven geerntet. In Haiti, heute eines der ärmsten Länder der Welt, erwirtschafteten damals eine halbe Million Sklaven 40% des Weltbedarfs an Zucker und 50% an Kaffee (Paczensky/Dünnebier 1999: 459).

 

 

Kaum ein Würzmittel ist so eng mit der europäischen Geschichte verknüpft wie das Salz: Salzmonopole ermöglichten Machtansprüche etwa der Klöster im Mittelalter, und neue Industrien entstanden um den Salzabbau in Europa. Salzsteuern erhoben auch die englischen Kolonisatoren in Indien, und bekanntlich widersetzte sich ihnen Mahatma Ghandi mit seiner gewaltlosen Aktion, er forderte dazu auf, Salzkristalle aus dem Meer zu nutzen anstatt das teure Salz der Engländer zu kaufen. Der Handel mit Gewürzen war seit Jahrtausenden zwischen den großen europäischen Metropolen das Rückgrat einer frühen Globalisierung der Märkte. Die Geschichte des Gewürzhandels ist zugleich die der Eroberung und Kolonisierung einerseits und des wachsenden Reichtums europäischer Großstädte, und es ist nicht verwunderlich, dass die Höfe der Fürsten, Könige und Päpste die Hauptabnehmer von Zimt, Koriander, Kümmel, Kardamom, Ingwer oder Safran und Vanille waren.

 

 

Im Laufe der Jahrhunderte etablierte sich eine Welthandelsstruktur, die sich heute als hochkomplex darstellt, deren Ursprung in der Zeit der Kolonisation jedoch unübersehbar ist. Versuchen wir, diese sich wechselseitig bedingenden Problemfelder mit folgenden Schlüsselbegriffen in ihrer Tragweite zu fokussieren, durchschaubarer zu machen und „aufzuschließen“:

 

 

Monokultur: Die Nahrungsmittelproduktion als Monokultur war klar auf den Export hin orientiert, oft damit verbunden, dass die Vielfalt der einheimischen Nahrungsmittel von den Kolonisatoren bekämpft wurde, etwa Amaranth in den Andenländern durch die Spanier. Noch heute haben diese einheimischen Nahrungsmittel, so es sie noch gibt, ein niedrigeres Prestige als die der reichen und weißen Minderheit. Monokultur birgt große Risiken, weil Missernten, Preisschwankungen auf dem Weltmarkt oder ein Nachfragerückgang seitens der Industrieländer sich unmittelbar auf das Einkommen des Landes und seiner Bewohner*innen auswirken. Außerdem ist das Land gezwungen, die Nahrungsmittel, die nicht oder nicht mehr selbst angebaut werden, (teuer) zu importieren. Industrielle Monokulturen machen einen massiven Einsatz von Kunstdünger und chemischen Pestiziden notwendig, teure Maschinen und hochtechnisierte Bewässerungssysteme tragen ebenso zur Zerstörung biologischer Vielfalt bei, zur Auslaugung der Böden, der Verschwendung und Vergiftung von Wasser bzw. zur Ausbeutung knapper Ressourcen.

 

 

Armut und Abhängigkeit: Die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit in den Ländern des Globalen Südens lebt entweder von der Subsistenzwirtschaft, bleibt also in Armut, weil nur das konsumiert werden kann, was selbst erzeugt wird. Oder man muss sich abhängig machen von Großgrundbesitzern und multinationalen Konzernen, weil diese bestimmen, was und v.a. zu welchem Abnahmepreis produziert wird. Preisschwankungen schlagen unmittelbar auf die Erzeuger durch, die Folgen sind

 

 

Mangel-/Unter- oder Fehlernährung: Armut führt unmittelbar zu einer Ernährung, bei der die für das Leben und v.a. für die geistige Entwicklung der Kinder notwendigen Proteine, Vitamine und Mineralien nicht ausreichend vorhanden sind. Proteinmangel führt auch zu einer erhöhten Kindersterblichkeit. Gesunde Ernährung ist zunächst eine Frage des Geldbeutels, dann aber auch eine der Bildung. Schon die genannten Faktoren wirken wie ein Teufelskreis der Armut und Abhängigkeit.

 

 

Zerstörung der Umwelt / Klimaschäden: Das drastischste Beispiel für die Zerstörung der Umwelt ist die Brandrodung und Abholzung des Urwalds im Amazonas. Großgrundbesitzer und die Unternehmen des Agrobusiness lassen seit Jahrzehnten mit Unterstützung der brasilianischen Regierung riesige Flächen des Urwalds roden, vor allem, um Soja anzupflanzen, das in Europa zu 90% als Viehfutter genutzt wird. Die zu befürchtenden Auswirkungen auf das Weltklima sind immens. Die von ihrem Land vertriebenen Kleinbauern sind gezwungen, sich neues Land zu erschließen, oft mit schlechteren Böden, und um als Familie überleben zu können, werden weiter Wälder gerodet, etwa um an Brennholz zu kommen.

 

 

Agrobusiness: „Transnationale Multis kontrollieren rund 40 Prozent des Welthandels und fast 90 Prozent des Rohstoffhandels. Ihre Organisationsmacht bewirkt, daß hauptsächlich sie an allen Stadien der Verarbeitung, des Transports und der Vermarktung verdienen. In den ‚Entwicklungsländern‘ werden die Rohstoffe und die örtlichen Arbeitskräfte so schlecht bezahlt, daß sich an deren wirtschaftlicher ‚Unterentwicklung‘ nichts ändern kann, also auch nicht an der Unterernährung“ (Paczensky/Dünnebier 1999: 423f.)

 

 

"Agrarkonzerne machen die Spielregeln

Geschaffen werden diese Strukturen in erster Linie von politischen EntscheidungsträgerInnen und Unternehmen im globalen Norden, in oftmals intransparenten und nur wenig demokratischen Prozessen. Von ihnen wird eine neoliberale Politik der Deregulierung mit verpflichtenden Marktöffnungen vorangetrieben, von denen vor allem die Agrarkonzerne profitieren. Weltweit haben in den vergangenen Jahren starke Konzentrationsprozesse im Agrarbereich stattgefunden. Die Folgen sind auch in Deutschland und Europa zu spüren: Alternativen zum Einkauf im Supermarkt gibt es kaum noch. In Deutschland kontrollieren fünf Supermarktketten 90 Prozent des Marktes und haben dadurch eine enorme Marktmacht. Diese können sie dazu nutzen, den erzeugerInnen und LieferantInnen günstige Preise und Bedingunegen abzupressen - auf Kosten der Umwelt und der LandwirtInnen und ArbeiterINnen sowohl im Süden als auch im Norden. Auch in Deutschland sind immer weniger Menschen dazu in der Lage, unter würdigen bedingngen Landwirtschaft zu betreiben. Die Anzahl der bäuerlichen Betriebe sinkt rapide: In Deutschland ist ihre Zahl in den letzten 15 Jahren um circa 40 Prozent zurückgegangen."(INKOTA[3])

 

 

Landraub: "Der Run auf die Ressource Land ist ungebrochen. Der Druck auf die Ressource und ihr Preis steigen

·        wenn Länder die Versorgung ihrer Bevölkerung mit ausreichend Nahrungsmitteln sichern wollen,

 

·        wenn weltweit der Boom von Agrosprit anhält und immer mehr Menschen mehr Fleisch essen und

 

·        wenn Investoren Land als Spekulationsobjekt nutzen.

 

 

Deshalb kaufen private Konzerne und Finanzinvestoren derzeit auf der ganzen Welt Land. Sie wollen dort genau die Produkte anbauen, mit denen sich weltweit am meisten verdienen lässt. Doch der globale Kampf um Boden hat nicht nur Gewinner. Wenn Großinvestoren ihr Land aufkaufen, muss die lokale Bevölkerung weichen. Und oft genug werden Regenwälder abgeholzt und die Umwelt zerstört.“ [4]

 

 

Zölle: Als Erbe des Kolonialismus wollen die Industrieländer Agrarrohstoffe möglichst unverarbeitet aus den Ländern des Südens importieren, denn die großen Gewinne macht man mit der Weiterverarbeitung der Produkte. Allerdings bekommen die Erzeugerländer keine Chance, diese Gewinne selbst zu machen und damit eine eigene Industrie zu entwickeln, denn die Industrieländer schützen sich dann durch hohe Zölle: Unverarbeitet muss etwa für Rohzucker 1% Zoll bezahlt werden, während auf raffinierten, also verarbeiteten Zucker 20% Zoll bezahlt werden muss. Ähnlich sind die Zahlen beim Kaffee und beim Kakao (Paczensky/Dünnebier 1999: 415f).

 

 

Lebensmittelhilfe: Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht. Dieser geläufige Spruch trifft voll auf die sog. „Lebensmittelhilfe“ zu, mit der die Industrieländer ihre Überschüsse, z.B. Getreide, in Länder des Globalen Südens exportieren, - mit der Begründung, Hunger bekämpfen zu wollen. Die Folgen sind fatal, denn damit tritt dieses Getreide in Konkurrenz zum örtlichen Handel und schwächt diesen oft nachhaltig. Eine weitere Wirkung ist, dass längerfristig die einheimische Produktion verdrängt wird und das Land von den Nahrungsmittelimporten aus dem Ausland abhängig (gemacht) wird.

 

 

Verschuldungsfalle: Wenn mehrere der genannten Problemfelder auf ein Land zutreffen, also z.B. man auf Nahrungsmittelimporte angewiesen ist, ebenso auf den Kauf von – tendenziell immer teurer werdenden – Industriegütern, die Preise für die exportierten Rohstoffe dagegen sinken, verschuldet sich ein Land immer mehr: „Um ihrer Schulden Herr zu werden, bemühen sich diese Länder, ihre Exporte zu steigern. Aber damit vergrößern sie nur ein Überangebot – also fallen die Preise weiter. (..) Die Schuldzinsen (..) fressen einen großen Teil der schrumpfenden Exporteinnahmen auf. Ein Teufelskreis. Nicht der Einzige“ (Paczensky/Dünnebier 1999: 418). Das Land wird damit also immer abhängiger und muss bei der Kreditaufnahme etwa bei der Weltbank deren (immer härtere) Konditionen erfüllen.

 

 

Wetten auf den Hunger: Seit jeher wurden an Warenterminbörsen Vereinbarungen über künftige Rohstofflieferungen („futures“) zu festgelegten Preisen getroffen. Sie sichern Lieferanten wie Abnehmer gegen allzu heftige Preissprünge etwa durch Wetterkapriolen ab. Liegt der vereinbarte Preis zum Termin über dem aktuellen Preis, freut sich der Verkäufer, liegt er darunter, profitiert der Käufer. Beide können jedenfalls bereits zum Zeitpunkt des Kontraktes mit diesem Preis kalkulieren. Daraus entwickelte sich in den letzten Jahren ein Casino für Anleger und Spekulanten, die mit Weizen, Soja, Mais oder Reis nichts zu tun haben“[5]. (Mit dabei sind übrigens immer noch die Deutsche Bank und die Allianz Versicherung). Mit Getreide zu spekulieren, treibt die Preise nach oben, - mit dem Ergebnis, dass der Preis, den unsere Bäckereien für das Mehl bezahlen müssen, immer teurer wird. Und da die Länder des Globalen Südens mittlerweile auf den Import von Weizen angewiesen sind, verteuert sich auch für sie das Brot. Tatsache ist, dass einige Spekulanten reich werden, während steigende Getreidepreise für Millionen Familien Hunger und Armut bedeuten.

 

„In den Erntejahren 2007/08 und 2010/11 sind Preiszunahmen um 50 Prozent für Getreide auf die Spekulation von Investoren zurückzuführen. Die rasant steigenden Preise für Lebensmittel führten zu Hungerprotesten in 61 Ländern. Die Zahl der Hungernden stieg um mehr als 100 Millionen und überschritt im Jahr 2009 erstmals die Rekordmarke von einer Milliarde Menschen. Der Wille zum Überleben ist so groß, dass die Betroffenen eine Flucht mit all ihren Risiken in Kauf nehmen“.[6]

 

 

Energiebilanzen: Auf gut einem Drittel der weltweiten Ackerflächen wird Getreide für Futtermittel angebaut. Hinzu kommen riesige Flächen für die Erzeugung von Biotreibstoffen. Rund 70% des zuvor bewaldeten Amazonaslandes wird als Weideland oder zum Anbau von Futterpflanzen, bes. Soja, genutzt. Abgesehen von der ethischen Frage, ob Getreide eher auf den Teller der Hungernden kommen soll oder in den Tank unserer Autos bzw. in die Futtertröge unserer Schweine und Rinder, - was die Fleischproduktion betrifft, gibt es unterm Strich einen großen Energieverlust:

 

Im Durchschnitt produzieren vier bis zehn Kilogramm Getreide und Bohnen gerade ein Kilogramm Rindfleisch, nötig sind dafür auch Unmengen an Wasser, und 1 kg Rindfleisch verursacht 22 kg Treibhausgase. „Der Kalorienverlust, der durch Verfütterung von Getreide an Tiere entsteht – anstat das Getreide direkt als Nahrungsmittel für Menschen zu nutzen-, entspricht dem jährlichen Kalorienbedarf von 3,5 Milliarden Menschen“ [7]              

           

 

Hunger und Migration: Flucht und Migration haben viele Gründe: Kriege und bewaffnete Konflikte, Verstöße gegen die Menschenrechte, Klimakrise oder unfairer Zugang zu Einkommen, Gesundheit und Bildung sind die großen sog. „Push-Faktoren“ weltweiter Migration. Auch die genannten Welthandelsstrukturen und die globalisierte Nahrungsmittelproduktion tragen wesentlich dazu bei, dass Armut und Hunger weltweit zunehmen und damit auch der Wunsch nach einem besseren Leben – eben durch Migration.                  

 

 

Es ist deutlich geworden, dass das große Thema der Welternährung als Erbe des Kolonialismus zusammengedacht werden muss mit dem epochalen Thema des Klimawandels. In den Forderungen nach einer „Agrarökologie“[8] werden zunächst die Anliegen einer ökologischen Landwirtschaft in der eigenen Region berücksichtigt, vgl. Stichworte wie Biodiversität, Anpassung an Klimakrise, Wertschätzung bäuerlicher und handwerklicher Arbeit, dann aber auch globale Themenfelder (Hunger, Agrobusiness, Pestizide, Klimawandel…) mitreflektiert.

 

Die Forderungen verweisen - „von unten“ oder von unserer konkreten Lebenswelt her gedacht - auf die Dimension der Welternährung. Möglicherweise ist das der vielversprechendste Weg einer Veränderung, nicht nur gesellschaftspolitisch, sondern auch mit Blick auf die Bildung: „Global denken - lokal handeln“. Diese Forderung aus den 1980-er Jahren ist aktueller denn je, und mit dem Schlüsselbegriff der „Nachhaltigen Entwicklung“[9] scheint es zu gelingen, sowohl die großen Problemfelder der weltwirtschaftlichen Entwicklung und des Klimawandels als auch unsere unmittelbare Lebenswelt zusammenzudenken. Eine Lebenswelt, in der wir uns als handlungsfähige und selbstwirksame Subjekte erfahren können. Nur dann, so meine These, kann Interkulturelles, Globales Lernen und auch eine Bildung für Nachhaltige Entwicklung gelingen, wenn die Lernenden im Rahmen ihrer Handlungsmöglichkeiten vor Ort Selbstwirksamkeitserfahrungen machen können. Denn diese sind Voraussetzung dafür, mit Fremden / Fremdem und mit Ambivalenz selbstsicherer umzugehen.

 



[1] Silvia Huth, Wie der Schwarzwald erfunden wurde (SWR), Tübingen 2013, S.124

[2] K.Bade (Hg.) Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 149. Vgl. auch S.159 und 201

[3] aus: INKOTA Netzwerk, Unser Essen mitgestalten. Ein Handbuch zum Ernährungsrat, Berlin 22017, S.8

4 Ankündigungstext zur Broschüre „Landraub. Der globale Kampf um Boden fordert Opfer, Publik-Forum Dossier/ https://webshop.inkota.de/produkt/broschuere/landraub-der-globale-kampf-um-boden-fordert-opfer

 [5] https://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/spekulation-mit-lebensmitteln.html

[7] https://www.brot-fuer-die-welt.de/fileadmin/mediapool/2_Downloads/NIFSA/NIFSA_Kampagnenblatt_Fleischkonsum.pdf

[8] https://www.inkota.de/themen/welternaehrung-landwirtschaft/agraroekologie/

[9] Vgl. die Publikation des Ökoinstituts „Globalisierung in der Speisekammer“, S. 85ff) https://www.oeko.de/oekodoc/27/1999-002-de.pdf