Mit diesem Kapitel wird der Versuch eines Überblicks über die Entwicklung der Esskultur/en in Europa gemacht. Dabei stütze ich mich vor allem auf zwei Publikationen: Gunther Hirschfelders „Europäische Esskultur“ (2001) und „Kulturgeschichte des Essens und Trinkens“ von Gert von Paczensky und Anna Dünnebier, das zwar schon von 25 Jahre erschien, aber m.E. immer noch Standardwerk ist, weil es nicht nur geschichtliche Entwicklungen etwa des Gewürzhandels oder der Rolle der Religionen nachzeichnet, sondern den Blick auch über den Tellerrand in außereuropäische Esskulturen wirft sowie die Bedingungen des Welthandels- und Ernährungssystems als Horizont immer mitreflektiert. Damit wird deutlich, wie schwierig es ist, „Europäische Esskultur“ losgelöst von Globalisierung und Kolonialismus zu betrachten. Kulturen sind eben nicht als Inseln, sondern eher als „verdichtete Gewebeteile“ zu verstehen.
Streifzüge durch die europäische Esskultur, - oder sollten wir besser den Plural nehmen und von „Kulturen“ sprechen? Lässt sich die Vielfalt der Küchen, der Essgewohnheiten wie der Rezepte, der Zutaten und Ernährungsmuster in Europa im Singular erfassen? Hier sind wir wieder beim schillernden Kulturbegriff, denn, um ein Ergebnis vorweg zu nehmen: Beides wäre möglich, denn für den Singular spricht, dass es eine relative Einheitlichkeit, eine dem Kontinent gemeinsame Entwicklungslinie – oder besser -strömung – gibt, die in der Geschichte der Antike wurzelt, wie wir sehen werden. Andererseits haben sich parallel dazu Tendenzen einer Regionalisierung entwickelt, regionale Besonderheiten und Gegenakzente gegen eine Vereinheitlichung. Es ist wie in der Gegenwart: Je mehr Fastfood und McDonaldisierung unserer Ernährung, desto stärker wird die Slowfood-Bewegung, die Rückbesinnung auf Qualität und Regionalität. Um beide Dynamiken einer Kultur, hier der Esskultur, zu verstehen, scheint mir die Metapher des Gewebes oder des Fließgleichgewichts passender als die des „Kulturkreises“ mit einer klaren, durchgezogenen Linie.
Wo beginnt und wo endet Europa? Überlassen wir den Streit den Geographen? Oder müssen wir nicht doch eher eine kulturelle Perspektive wählen? Solche Fragen zu diskutieren, ist schon einmal zentral für interkulturelles Lernen. Was versteht man z.B. unter einer „deutschen Küche“? Wären wir ein Bewohner Papua-Neuguineas, würde uns die Antwort vielleicht leichter fallen, denn aus der Entfernung und mit viel Unschärfetoleranz könnten wir „typische“ Zutaten identifizieren, könnten wie ein Völkerkundler Muster des Essverhaltens beschreiben. Wir könnten zusammen mit anderen „kulturellen Eigenarten“ zu pauschalen Schlussfolgerungen kommen wie „die Deutschen sind…“ Aber je näher wir rangehen, erkennen wir Einflüsse der Region, der Natur, der Religion, vor allem aber der wirtschaftlichen Lage. Der Arme isst anders als der Reiche, je nach Schicht, Milieu oder Lebensstil entwickeln beide unterschiedliche kulturelle Ernährungsmuster. Gehört das Fastfood, gehören Döner, Pizza und Spaghetti zu dem, was wir „deutsche Küche“ nennen? Können wir uns ein Leben ohne die italienischen Eisdielen vorstellen. Wir sehen, Menschen wandern und mit ihnen die Rezepte, - nichts ist normaler und kennzeichnender für unsere Esskulturen.
Beginnen wir nun mit unseren Streifzügen in der Ur- und Frühgeschichte.
Die Jäger und Sammler der Altsteinzeit haben alles roh gegessen, Knollen, Nüsse, Samen, Beeren von Sträuchern und auch das Fleisch der gejagten Tiere. Der Neandertaler entdeckte dann das Herdfeuer, das Braten des Fleischs ebenso wie etwa die Technik, mit im Feuer erhitzten Steinen Wasser zum Kochen zu bringen, etwa für eine Suppe oder einen Eintopf. Der entscheidende Einschnitt in der Menschheitsgeschichte aber liegt etwa 35.000 Jahre zurück: der Homo Sapiens begann Höhlen zu bemalen (etwa Altamira in Spanien oder Lascaux und Chauvet in Südfrankreich), Musikinstrumente und Figuren zu schnitzen, etwa auf der Schwäbischen Alb: Dort im Lonetal spricht man vom „Weltkultursprung“ (vgl. www.welt-kultursprung.de ), um deutlich zu machen, dass die kulturelle Arbeit das ist, was uns vom Neandertaler unterscheidet. Interessant ist weiterhin die Jungsteinzeit, etwa bis 3500 v.Chr., als Übergang von der Jäger- und Sammler-Phase zur Sesshaftigkeit: Die ersten Hirten und Bauern bauten Siedlungen, z.B. auf Pfahlbauten, wie wir sie in Überlingen am Bodensee besichtigen können.
Mehrere Ausstellungen zum Weltkulturerbe der Pfahlbauten zeigen, dass schon damals Handel und Kulturkontakte über ganz Europa verbreitet waren, so finden sich Bernstein-Funde in ganz Europa. Mit der Sesshaftigkeit einher gingen natürlich auch Veränderungen der Nahrungsgewohnheiten. An Bedeutung gewannen vor allem Gemüse und Getreide: Über Jahrtausende blieb die sog. Brei-Nahrung – aus geröstetem Einkorn, Emmer, Gerste und Weizen – das Standard-essen vor allem der ärmeren Bevölkerung.
Ein nächster qualitativer Sprung ist um 1000 v.Chr. mit dem Metallzeitalter festzustellen: Die Eisen- und Bronzezeit ermöglichte nicht nur bessere Waffen, sondern auch Sicheln und Pflugscharen, also Werkzeuge für die Nahrungsmittelproduktion. Mit der Sesshaftigkeit einher ging eine soziale Differenzierung in den Siedlungen und Regionen, eine Führungsschicht stand der großen Gruppe der abhängigen Bauern gegenüber, ebenso festigte sich die geschlechtsspezifische Rollenverteilung. Männer jagen, Frauen sammeln, um es auf eine kurze Formel zu bringen.
Wir kommen nun zu einer kulturellen Dynamik, die ihren Ursprung im Mittelmeerraum hat: Von der Hochkultur der ägyptischen Pharaonen lässt sich kulturell und damit auch ernährungsgeschichtlich eine Traditionslinie über das antike Griechenland, das Römische Reich bis nach Zentraleuropa ziehen. Beim Thema „Brot“ werden wir das noch vertiefend anschauen.
Der Nil in Ägypten, Euphrat und Tigris in Mesopotamien, heute etwa Irak und Syrien, das Wasser dieser Flüsse war Grundlage für die Entwicklung der ersten Hochkulturen etwa ab 3000 v.Chr., die schon früh Kontakte zu östlichen und fernöstlichen Kulturen z.B. nach China und Indien pflegten und die eingehandelten Gewürze in ihre Kochkultur integrierten. Essen und kultische Opferhandlungen standen in einem engen Zusammenhang, Brot war das Hauptnahrungsmittel, der Staat spielte eine große Rolle in der Nahrungsmittelversorgung, es gab zentral verteilte Rationen für die gemeinschaftlich ausgeübte Feldarbeit. Die Bedeutung der Weinkultur in Europa hat ebenso hier ihren Ursprung und wurde über das Christentum zu einem Grundpfeiler unserer Ess- und Trinkkultur.
Im antiken Griechenland bewunderte man die Ägypter und übernahm viele Essgewohnheiten und Rezepte, nachdem Alexander der Große im 4.Jh. v.Chr. Ägypten erobert hatte. Während jedoch in Ägypten Schweinefleisch tabu war, kam es in Griechenland oft auf den Speisezettel. Fleisch war ein Luxusgut, es herrschte großer Fleischmangel, daher gewann Fisch eine größere Bedeutung und natürlich wieder das Brot bzw. der Getreidebrei. Hier lässt sich beobachten, was sich in den folgenden Jahrhunderten noch öfter zeigen wird: Der Wohlstand des Einzelnen und der Gruppe zeigt sich proportional zum Fleischkonsum.
Wer isst mit wem am selben Tisch, wie ist die Sitzordnung und damit die Rangordnung, essen Männer und Frauen gemeinsam oder getrennt, wer bekommt das beste Stück Fleisch und darf als erster zugreifen…, das sind kulturell hoch spannende Fragen, die helfen zu erschließen, wie eine Kultur „tickt“, an welchen Werten sie sich orientiert, wo und wie sie sich damit von anderen „Kulturen“ abgrenzt und damit: Wie sie ihre Identität konstruiert. Dazu gehören solche Fragen der sozialen Organisationen ebenso wie einzelne Nahrungsmittel oder Bräuche, die „typisch“ für sie sind. Im alten Griechenland war das Symposion keine wissenschaftliche Veranstaltung, sondern ein „fröhlicher Umtrunk unter Männern“, und gemeinsame Mahlzeiten fanden häufig im Kreis der Geschlechtsgenossen statt.
Im Gegensatz dazu war das „Gastmahl“ im Römischen Reich – der nächsten Etappe unserer historischen Streifzüge – zentral, und hier aßen Männer und Frauen gemeinsam zu Hause, wobei auch hier ein Hang zu ausschweifenden Gelagen beschrieben wird. Wir kennen den Begriff „Brot und Spiele“ als Mittel, um eine Bevölkerung ruhig zu halten. Bei den „Spielen“ handelte es sich um die grausamen Kämpfe der Sklaven mit wilden Tieren etwa im Kolosseum in Rom, beim „Brot“ ist wichtig zu wissen, dass es eine zentrale Zuteilung gab, so dass bei den zahlreichen Missernten und Ertragsschwankungen gesichert war, dass keiner hungern musste. Das Römische Reich erstreckte sich von England bis in die nordafrikanischen Küstenregionen und rund ums Mittelmeer bis weit in den Nahen Osten hinein. Mit der Eroberung der Provinzstädte fand auch eine gewisse Vereinheitlichung, eine „Romanisierung“ der Ernährung statt, parallel dazu gab es starke regionale Ernährungsmuster, ebenso galten strenge Speisegesetze für Menschen jüdischen Glaubens. Nicht nur viele Kräuter und Gewürze aus dem Orient fanden so ihren Weg nach Zentraleuropa, sondern auch die Kultivierung des Weins. Zur Blütezeit dieser Epoche gehörte sicher auch die römische Ingenieurskunst etwa beim Bau großer Wasserleitungen. So konnte etwa Köln durch frisches Quellwasser aus der nahen Eifel versorgt werden, in Rom gab es eine Leitungsanlage, um die Menschen täglich mit einer Milliarde Liter zu versorgen: Frischwasser ist also zentral für die Ernährung, für die Gesundheit der Menschen und für die Entwicklung ihrer Kultur.
Zu Zeiten des Zerfalls des Römischen Reichs war die Ernährung im Mittelmeerraum tendenziell eher pflanzlich, in Nord- und Mitteleuropa eher tierisch geprägt. Das sollte sich in der Epoche der Völkerwanderungen (4.-6.Jh.) ändern, mit den Menschen wandern die Rezepte, und folglich fand eine kräftige Durchmischung statt. Während der Wirren in Zentraleuropa in dieser Zeit entstand in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, ein neues politisches und kulturelles Machtzentrum: Man aß feines Weißbrot aus Weizen, nutzte das vielseitige Angebot an Gewürzen. Olivenöl war schon damals dominant, und als Fleisch aß man Schafe, Hammel, Ziegen, Schweine, Fische und Vögel. Während die Oberschicht eine Mischung aus antiken und orientalischen Speisen schätzte, musste die ärmere Bevölkerungsmehrheit sich eher mit Brot, Gemüse und Früchten zufriedengeben.
Im Frühen Mittelalter gab es in Zentraleuropa viele Zerstörungen, auch etwa der römischen Wasserleitungen, zum Niedergang beigetragen haben Missernten, Kriege, Plünderungen und Naturkatastrophen. Infolgedessen lagen die Landwirtschaft und auch der Handel am Boden, die Bauern waren von Großgrundbesitzern und/oder von Klöstern abhängig. Die Feste und gemeinsamen Mahlzeiten waren stark gemeinschaftlich orientiert. Interessant ist, dass die religiösen Fastenordnungen zur Folge hatten, dass der Handel mit Fisch den Aufschwung der Teichwirtschaft und etwa die Osterbräuche wesentlich beeinflusste. Das Hochmittelalter, also die Zeit um 1000 / 1200 kann als Blütezeit betrachtet werden, nicht nur kulturell herrschte Aufbruchsstimmung, sondern auch klimatisch: Ein stabiles Klima ermöglichte stabilere Erträge, auch in nördlicheren Regionen konnte Getreide angebaut werden, die Bevölkerungszahl stieg an, Mittel- und Osteuropa wurde erschlossen, neue Techniken in der Landwirtschaft eingeführt, es entstand das europäische Städtewesen und damit auch gotische Kathedralen: Mainz und Köln wurden etwa zu Drehkreuzen des grenzüberschreitenden Handels. Zu handeln gab es viel, u.a. aus dem Orient, den das christliche Abendland mit blutigen Kreuzzügen überzogen hatte. Unser weihnachtlicher Spekulatius ist eindeutig ein Produkt der Kreuzzüge, ebenso das starke Würzen von süßem Gebäck bzw. der Import von Safran, Ingwer, Zucker und Zimt.
Das Hochmittelalter ist also nicht nur die Zeit des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aufbruchs, sondern auch der Alltagskultur, die einher ging mit einer starken sozialen Differenzierung. Arme aßen eher Brot und Brei, Reiche konnten sich Fleisch, Fisch und frisches Gemüse leisten, Arme tranken Wasser aus öffentlichen – und oft verunreinigten – Brunnen, während Reiche die eigenen Zisternen nutzen konnten. Für letztere wurde das Festmahl, zum Mittel der Repräsentation: man zeigte öffentlich, wer man ist und was man sich leisten konnte. Die soziale Differenzierung des Städtegesellschaft brachte auch verstärkt ernährungsspezifische Berufe hervor, etwa Bäcker und Metzger. Insgesamt war das Hochmittelalter stark von der Kirche und den Klöstern kulturell geprägt, von der Praxis des Fastens, der Askese und Enthaltsamkeit. Ein auch heute noch bekannter Name darf nicht unerwähnt bleiben: Hildegard von Bingen hatte als Erste naturwissenschaftliche Studien zu einzelnen Nahrungsmitteln angefertigt.
Nur bis etwa 1300/1400 dauerte die Blütezeit des Hochmittelalters, bis periodisch auftretende Hungersnöte in vielen Regionen Europas die Ernährungssituation prägten. Entscheidend für Reichtum und Armut in der Bevölkerung war sicher auch das Erbrecht, das sich regional sehr unterschiedlich entwickelte: Erbt der älteste Sohn, bleibt der ganze Besitz erhalten und kann sich weiterentwickeln, aber – die anderen Geschwister gingen leer aus, blieben arm, mussten auswandern oder sich als Leibeigene verdingen. Im Südwesten gab es die Realerbteilung, bei der alle etwas abbekamen, aber dadurch wurde der Besitz in kleine, oft kaum lebensfähige Einheiten aufgesplittert. Dies wiederum führte längerfristig zu einer Aufwertung der Klein- oder Kernfamilie, in der das gemeinsame, kärgliche Mahl zentral wurde für das Sozialleben.
Wenn wir von der „Neuzeit“ reden, meinen wir die Epoche der Renaissance, in der sich politische und kulturelle Entwicklungen wechselseitig verstärkten: Mitte des 15. Jahrhunderts wurde der Buchdruck erfunden, vierzig Jahre später eroberte Kolumbus Amerika, und 1517 begann die Reformation mit dem Thesenanschlag Martin Luthers. Die Eroberung des alten Machtzentrums Konstantinopel bewirkte eine Flucht der Gelehrten in die neuen Zentren der politischen und kulturellen Entwicklung in Europa, die dort einen wesentlichen Beitrag zur Aufbruchsstimmung und zur wissenschaftlichen wie kulturellen Entwicklung leisteten.
Für die Ernährungssituation in Europa war die Eroberung des amerikanischen Kontinents ein so grundlegender Einschnitt, dass von einem „Columbian Exchange“ gesprochen wird. Weizen und Schweinefleisch gelangten nach Amerika, umgekehrt der Truthahn, Mais, Kakao und vor allem die Kartoffel fanden ihren Weg von dort nach Europa. Ab dem 17. Jh. wurde die Kartoffel zum Grundnahrungsmittel in ganz Westeuropa und löste damit die mittelalterlichen Brot- und Breispeisen – v.a. für die Armen – ab. In Kap. 7 wird zu zeigen sein, dass dieser „exchange“ keineswegs ein bloßer Austausch oder eine kulinarische Bereicherung war, sondern als „Dreieckshandel“ den Grundstein legte für Kolonialismus, eine Bereicherung Europas auf Kosten der eroberten Gebiete im Globalen Süden bzw. eine Weltwirtschaftsordnung, die noch heute Hunger hervorbringt.
Kaum zu überschätzen ist die Rolle der Reformation im 16. Jahrhundert für die Entwicklung der Alltagskultur und damit auch der Ernährung: Die Trunksucht und Völlerei wurde angeprangert – und nicht nur die der katholischen Würdenträger - , eine bewusstere Ernährung wurde gepredigt und vor allem Askese, strenge Sitten und Enthaltsamkeit. Nicht zuletzt die Abschaffung der Fasten- und Heiligentage im Jahr führte regional zu unterschiedlichen Essgewohnheiten. Ein kleiner Blick in die folgenden Jahrhunderte bestätigt die These von der großen kulturellen Bedeutung des Protestantismus: Nicht nur dass viele Kinder aus Pfarrersfamilien zu den geistigen Größen des Kulturlebens – etwa als Schriftsteller oder Musiker – wurden. In Unternehmerfamilien wurde das Bewusstsein, „auserwählt“ zu sein, zu einer Verpflichtung zu wirtschaftlichem Erfolg – durch Sparsamkeit, Askese und Ehrlichkeit. Der wirtschaftliche Erfolg wurde dann als Bestätigung dafür wahrgenommen, von Gott auserwählt zu sein. Die Folge: Lange waren bis ins 20. Jahrhundert hinein die protestantischen Regionen Deutschlands die wirtschaftlich erfolgreicheren, während die katholischen Regionen eher in Armut blieben (so sprach man in der Schulpädagogik in den 1970-er Jahren mit der Kunstfigur des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ von einer vierfachen Bildungsbenachteiligung: Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, Stadt-Land-Gegensatz und Konfession…[1]).
Das 17. Jahrhundert litt mit seinen Hungersnöten noch lange unter dem Dreißigjährigen Krieg, der ganz Europa in ein Trümmerfeld verwandelte. Wanderarbeit war eine der wenigen Möglichkeiten zu überleben. Das brachte den expandierenden Regionen in Europa in der Folgezeit das notwendige Arbeitskräftepotenzial. Saisonarbeiter zogen nach Ostengland, ins Pariser Becken, nach Madrid in die Bau- und Landwirtschaft, nach Katalonien und in die Provence zur Weinernte, in die Po-Ebene, nach Mittelitalien oder an die Nordseeküste. Ohne diese Migranten wäre die wirtschaftliche Entwicklung dieser aufstrebenden Regionen undenkbar gewesen. In Irland zeigte sich im 18. Jahrhundert die Abhängigkeit von einer Monokultur, der Kartoffel, im Verbund mit der Abhängigkeit von englischen Großgrundbesitzern. Die Massenauswanderung v.a. in die USA Mitte des 19. Jahrhunderts war eine Folge. Dies kann auch für Deutschland beobachtet werden: Hungersnöte und die politische Situation nach der gescheiterten 1848-er Revolution bewirkte ebenso eine starke Emigrationswelle v.a. nach Chile und Venezuela (vgl. dazu Kap. 7).
Die beginnende Industrialisierung im 19. Jahrhundert war von Hungersnöten, großem Elend auf dem Land und Landflucht begleitet, sie veränderte europaweit und grundlegend die zuvor agrarisch strukturierten Landschaften. Aber es konnten sich gleichzeitig immer mehr Menschen, auch ärmere, die sog. „Kolonialwaren“ leisten, also Kaffee, Tee, Reis oder Zucker.
Die Industrialisierung hatte große Veränderungen in der Ernährung zur Folge: Nahrungsmittel wurden großindustriell gefertigt. Die Mechanisierung der Landwirtschaft führte zu einer Agrarrevolution, Kunstdünger verbesserte die Erträge, der Kleinhandel expandierte, neue Strukturen des Handels und des Vertriebs wurden entwickelt. Das Nahrungsmittelangebot wurde erweitert und die Preise sanken, Methoden einer Konservierung der Nahrungsmittel (z.B. Metallkonserve, Kühlschrank) wurden entwickelt, eine leistungsfähige Lebensmittelindustrie entstand, begleitet durch eine Transportrevolution mit der Eisenbahn. Produktionssteigerungen und Wirtschaftsaufschwung ließen hoffen auf ein Ende von Hungersnöten.
Die Industrialisierung etwa im Ruhrgebiet wirkte wie ein Magnet auf Migranten aus Osteuropa. Eine Stadt wie Essen hatte um 1860 noch 20000 Einwohner, vierzig Jahre später mehr als sechs Mal so viel. Die polnisch klingenden Namen von Fußballern aus Vereinen des Ruhrgebiets zeugen heute noch von der starken Einwanderungswelle aus Polen. In der Migrationsforschung spricht man von Push- und von Pull-Faktoren: Bei der Auswanderung der Iren und der Deutschen nach Übersee als Folgen von in-/direkter Vertreibung sind Push-Faktoren wirksam, im Falle der Polen im Ruhrgebiet waren es Pull-Faktoren. In jedem Fall führte die Migration zu einer starken Veränderung der Essgewohnheiten, wenn aus Bauern Industriearbeiter wurden.
20. Jahrhundert: Selbstversorger haben’s besser in Krisenzeiten. Die Auswirkungen des 1. Weltkriegs ab 1918 und der Weltwirtschaftskrise 1929 waren vor allem in den Städten spürbar, während sich die Menschen auf dem Land noch einigermaßen selbst versorgen konnten, sie suchten auch in einer starken Traditionsorientierung Halt, - und interessanterweise waren dies stark katholisch geprägte Regionen.
Im Nationalsozialismus wurde Esskultur zu einer „nationalen Aufgabe“, alles „Fremdländische“ wurde abgelehnt, auch und gerade die „jüdischen Elemente“ der Kochkultur.
Hunger und eiskalte Winter in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg brachten über 20 000 Todesopfer, und nur Lebensmittellieferungen der Besatzungsmächte ermöglichten das Überleben.
Die 1960-er, die „Wirtschaftswunder“-Jahre waren gekennzeichnet durch eine „Fresswelle“: Endlich mal nicht mehr hungern, je mehr, desto besser, all you can eat! Fertiggerichte, Tiefkühlkost, eine flächendeckende Versorgung mit Kühlschränken, die Expansion der Supermärkte war die eine Seite. Hinzu kamen die Massenmotorisierung und die Reisewelle: Man lernte in Italien Pizza und Spaghetti kennen und schätzen, probierte andere südländische Rezepte… Und plötzlich - als Folge der Errichtung der Berliner Mauer 1961, als die für den Aufbau des Wirtschaftswunders ausbleibenden Arbeitskräfte aus dem Osten ausblieben, plötzlich schloss man Anwerbeverträge mit Italien, Griechenland, der Türkei, Spanien, Portugal, Jugoslawien: Die „Gastarbeiter“ waren da – mit ihren neuen Essgewohnheiten, mit Knoblauch und anderen, für den deutschen Normalbürger ungewohnten Speisen…
Einen Schub der Erneuerung, der Experimentierfreudigkeit und der Kritik an erstarrten Essritualen und -gewohnheiten brachte die 68-Bewegung, die auch den Blick öffnete für die Zusammenhänge zwischen dem Hunger und der Unterentwicklung in den Ländern des Globalen Südens und der Überfluss- und Wegwerfgesellschaft in den reichen Ländern. „Global denken – lokal handeln“ war ein Slogan, der bereits Anfang der 1970-er Jahre aufkam, nicht zuletzt mit der sog. „Ölkrise“ 1973, die die „Grenzen des Wachstums“ erkennbar machte – und die starke Lobbymacht des Agrobusiness, das Strukturen geschaffen hat, die es ermöglichen, im Amazonasgebiet Urwald zu roden, um Platz für Sojaplantagen zu schaffen, ein Produkt, mit dem unsere Fleischproduktion gesteigert wird, eine Überproduktion, mit der unsere Fleischindustrie wiederum in Ländern des Südens deren zaghafte Versuche einer eigenen Fleischproduktion niederkonkurriert.
Ich möchte schließen mit einem Zitat aus dem Buch von Hirschfelder zur identitätsstiftenden Rolle von Esskulturen: „Menschen und soziale Gruppen haben ein Bedürfnis nach Identität. Deshalb werden regionale Besonderheiten beim Essen bestehen bleiben, zumal andere Möglichkeiten der Identitätsstiftung im Verschwinden begriffen sind: Dialekte verschwimmen mit zunehmender Mobilität, regionale Trachten und Moden sind bereits weitgehend ausgestorben, während die regionalspezifischen Esskulturen eine Renaissance erleben, die kein Strohfeuer bleiben wird“ (Hirschfelder 2005: 257). Hirschfelder spricht hier im Plural von Esskulturen und von Identität. Zur Eingangsfrage, ob wir Kulturen im Singular oder im Plural verstehen sollen, hat der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano mal den Satz geprägt: „Unsere Identität ist nicht ein Museumsstück, das in eine Vitrine gesperrt wird, sondern eine Synthese unserer alltäglichen Widersprüche, die stets aufs Neue überrascht“.
Literatur
Gunther Hirschfelder (2005): Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt: Campus
Gunther Hirschfelder (2018): Facetten einer Ernährungs-Globalgeschichte. Esskultur als Resultat historischer Prozesse, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Essen, ApuZ 68(2018) H.1-3, S.4-11, Bonn
Paczensky, Gert von; Maria Dünnebier (1999) [1994]: Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, München: Orbis
Sassen, Saskia (1996): Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa, Frankfurt: Fischer TB