Genuss.Rausch.Grenzüberschreitungen

Gehören Genuss und Rausch zum menschlichen Wesen? Beim Blick in die Kulturgeschichte und den Alltag von Kulturen auf der ganzen Welt bis weit in die Vorzeit könnte man zu diesem Schluss kommen. Dem Alltag entfliehen, jenseits des Grau etwas Buntes erleben, an die Grenzen des Normalen zu kommen und sie vielleicht überschreiten, - das scheint seit Urzeiten ein menschliches Bedürfnis zu sein. Wobei das sicherlich früher wie heute sowohl Ängste als auch Wünsche und Phantasien auslöste. Fremdes fasziniert und macht Angst, wenn man den vom Ich kontrollierten Bewusstseinszustand verlässt. Drogen verstärken bekanntlich die aktuelle psychische bzw. Stimmungslage, und es bleibt schwer kalkulierbar, ob man eine paradiesische Reise wahrnimmt oder in einen Horrortrip stürzt.

 

Doch bleiben wir zunächst bei den Nahrungsmitteln, denen eine „aphrodisierende“, also das Liebesleben stimulierende Wirkung zugesprochen wird. Zu allen Zeiten und auf der ganzen Welt, so Paczenski/Dünnebier (1999: 299), gab es Vorstellungen, dass bestimmte Nahrungsmittel einschlägige Wirkungen hätten. Mal war es die Kartoffel wie zu Shakespeares Zeit oder heute Kaviar oder Austern. Uralt sind Vorstellungen nach dem „Ähnlichkeitsprinzip“, dass also etwa das Verspeisen des entsprechenden Tierorgans dem menschlichen Pendant diese – „animalische, übermenschliche“ - Kraft verleiht, oder dass etwa das pulverisierte Horn des Nashorns die männliche Potenz steigert, was dem armen Tier einen Platz auf der Roten Liste bescherte. Und es braucht nur wenig Phantasie, bei der Form bestimmter Nahrungsmittel eine Ähnlichkeit mit einem männlichen oder weiblichen Geschlechtsorgan zu sehen: Magisches Denken sitzt eben tief!

 

Im Blick auf die europäische Kulturgeschichte sehen wir, dass vor allem für den jeweils dominanten Part, in patriarchalen Gesellschaften den Mann, eine Vielzahl bestimmter Nahrungsmittel als stimulierend und kraftspendend überliefert ist. Allerdings, so Paczenski/Dünnebier (1999: 301), schien es bis ins ausgehende Mittelalter auch so gewesen zu sein, dass die Männer „Lustspeisen“ suchten, um mit ihren überaktiven Frauen mithalten zu können.

 

Der nüchterne Blick auf die Wirkung solcher Nahrungsmittel zeigt jedoch, dass vor allem der Glaube die Berge versetzt: Sicher gibt es, wie wir noch sehen werden, Nahrungs- und Genussmittel, Gewürze oder Getränke, die den Kreislauf in Schwung bringen, Herz, Magen und Darm in Aufruhr versetzen. Aber entscheidender sind vermutlich die genussvolle Atmosphäre beim Essen sowie die Psychologie, also der Wunsch, dass etwas wirken möge: Die Grammatik unserer Gefühle scheint noch immer geprägt von der (Kinder)Zeit, als Wünschen noch geholfen hatte.     

 

„Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich“: Vor 40 Jahren zeigte das Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum eine große Ausstellung unter diesem Titel. Deren Kuratorin Gisela Völger formulierte in ihrer Einführung zum voluminösen Materialienband (1981:23) als Quintessenz: „Jede Kultur, jedes Zeitalter hat die Droge, die zu ihm passt“. Den Gedanken weiterführend, müsste man dann von der Art und Weise, wie die Menschen mit dieser Grenzüberschreitung umgegangen sind und umgehen, auf deren Kultur, Gesellschaft oder Alltag rückschließen können. Dies soll in einem abschließenden Teil dieses Kapitels versucht werden.

 

 

Grenzerfahrungen stellen immer potenziell Ich-Grenzen in Frage, machen sie durchlässiger oder verflüssigen sie. Bei extremen Outdoor-Aktivitäten gehen wir an die Grenzen der körperlichen Fähigkeiten, an die Grenzen der AngstLust. Extreme Orte lassen uns unseren Körper spüren, wir sind von ihnen ergriffen, spüren den Flow, verschmelzen mit der Situation, spüren keinen Schmerz mehr und bemerken, wie sich eine Grenze verschiebt: Wir gewinnen mehr Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit im Umgang mit dem Unbekannten, Unheimlichen und Unberechenbaren. Das Bedürfnis nach Erfahrungen an solchen Ich-Grenzen scheint also überall und zu allen Zeiten urmenschlich zu sein.

 

Bei Ureinwohnervölkern und in traditionellen Kulturen war und ist die Trennung zwischen der Sphäre des Profanen/Alltäglichen auf der einen Seite und der des Heiligen auf der anderen ein zentraler Bestandteil ihres Lebens. Vor allem Feste im Jahreskreislauf sowie biografisch bedeutsame Ereignisse wie Hochzeiten oder der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter waren und sind Gelegenheiten für eine Initiation, das Überschreiten einer Schwelle, eine Einweihung in den neuen Status. Um den Schritt über diese Grenze gehen zu können, waren strenge Rituale der Reinigung, des Fastens, der Enthaltsamkeit gefordert sowie die Einhaltung bestimmter Tabus. Die Einhaltung bestimmter Riten garantierte, dass die Risiken verringert und die Zeichen für einen Neuanfang gutstanden.

 

Wie bei der Metamorphose einer Pflanze wurde ein alter Zustand abgestreift, es gab eine Art Wiederauferstehung, eine Partizipation am Heiligen, ein Rauschzustand, eine Ekstase – wörtlich übersetzt: ein „Aus-sich-heraustreten“. Ein solch krisenhafter Schritt über diese Grenze erfolgte meist durch die Vermittlung eines Schamanen und oft unter Zuhilfenahme bewusstseinsverändernder Drogen: Je nach Kultur versuchte man den Übergang in den Trancezustand auch durch Musik, Trommeln und Tanz, oft aber zusätzlich durch Alkohol, Pilze, Cannabis, Tabak oder andere Pflanzen herzustellen. Allerdings ist in Ureinwohnergesellschaften der Gebrauch solcher Drogen und auch der Alkoholkonsum streng in Rituale eingebunden, sozial kontrolliert und dient letztlich der Festigung der Gemeinschaft. Lösen sich diese rituellen und sozialen Bindungen auf, wie es beispielsweise bei den nordamerikanischen Ureinwohnern zu beobachten ist, wenn sie sich an den Lebensstil der Mehrheitsgesellschaft anpassen, ist der Preis eine große Anzahl von Betrunkenen.

 

Cannabis/Haschisch

Cannabis zählt zu den ältesten Kulturpflanzen mit sakralem Charakter, Archäologen fanden Spuren, die bis in die Zeit 3000-4000 v.Chr. (Nord-China) zurück reichen. Je nachdem, welche Teile der Pflanze genutzt wurden, fand sie Verwendung als Textilfaser, Suppe, Brei, Öl, Gewürz, Medizin oder als Droge (Moser-Schmitt 1981: 542). Arabische Händler führten die Pflanze bereits im 2./3.Jh. nach Südafrika ein, und um das 10./12.Jh. war Cannabis dank der Handelswege nach Indien und Persien in Nord- und in Zentralafrika weit verbreitet. Heute scheint im südlichen Afrika wie auch im Orient Haschisch vor allem in unteren Bevölkerungsschichten konsumiert zu werden (vgl. du Toit 1981: 508 ff; Saleh 1981: 488).

 

Im Anschluss an die These, dass jedes Zeitalter die Droge hat, die zu ihm passt, erwähnt Gisela Völger (1981: 23), dass in China im Zeitalter des Konfuzius Cannabis an Bedeutung verlor, weil das damit verbundene Ideal der Mäßigung und Selbstkontrolle im Gegensatz zu der Zügellosigkeit und dem unmotivierten Lachen beim Haschischkonsum stand. Keine andere Droge ist in den letzten Jahren so heftig und kontrovers diskutiert worden: „Den einen ist Haschischgebrauch der Inbegriff einer wünschbaren freien Lebensgestaltung, den anderen der Inbegriff eines höchst unerwünschten Kontrollverlusts.“ (Uchtenhagen 1981: 788) (dazu später mehr)

 

Kakteen, Qat und Kola-Nuss

Bei den Ureinwohnervölkern Südamerikas spielt(e) der San Pedro-Kaktus nicht nur bei religiösen Riten, sondern auch bei der Heilung psychosomatischer Erkrankungen eine große Rolle: Die Medizinmänner sehen eine Erkrankung als ganzheitliches Phänomen, d.h. die erkrankte Person im Kontext ihres sozialen und emotionalen Beziehungsnetzes (Sharon 1981: 444 ff.). Die medizinische Wirkung des San Pedro-Kaktus wird als bewusstseinsverändernd beschrieben.

 

Auf der ganzen Welt werden Pflanzen und Früchte konsumiert, die wegen bestimmter Alkaloide eine anregende Wirkung haben.

So ist etwa in Westafrika das Kauen der Kola-Nuss verbreitet, die wegen des Koffeins ähnlich wie Tee oder Kaffee Müdigkeit vertreibt sowie Hunger- und Durstempfinden unterdrückt (Agiri 1981: 528ff). Das Alkoholverbot in muslimischen Ländern lässt nach Alternativen suchen: Im Jemen gehört der Konsum von Qat-Blättern zur Alltagskultur, um „die Wahrnehmung zu steigern, kognitive Prozesse zu erhöhen und das Allgemeinbefinden zu verbessern“ (Kennedy 1981: 506). Die auch schmerzstillende Wirkung der Qat-Pflanze hat zu einer solchen Verbreitung geführt, dass die Frage einer psychischen bzw. körperlichen Abhängigkeit diskutiert wird. Dass sich die Reichen des Landes teurere und qualitativ bessere Blätter leisten können, ist eine Erkenntnis, die sicherlich auch auf andere Drogen übertragbar ist.    

 

Koka

Auf einer Studienreise durch Peru wurde uns vom einheimischen Reiseleiter dringend geraten, vor den Busfahrten bis auf 5000 Höhenmeter morgens beim Frühstück im Hotel Kokatee zu trinken und dann während der Fahrt Kokablätter zu kauen bzw. zusammengerollt im Mund zu halten, um Kopfschmerzen bzw. die Höhenkrankheit zu vermeiden. Es hatte gewirkt, schmeckte wie Kräuterbonbons. Seit etwa 5000 Jahren konsumieren die Indigenen der Andenländer diese Pflanze, der auch heute noch in ihrem kulturell-religiös-medizinischen Kosmos eine sehr große Bedeutung zukommt (Scheffer 1981: 428 ff.). Daher versuchten die spanischen Eroberer sie zunächst zu verteufeln und zu verbieten, änderten aber bald ihre Haltung, weil sie feststellten, dass die zur harten Arbeit in den Silberminen verpflichteten Indios eine bessere Leistungsfähigkeit in großer Höhe zeigten, wenn sie Koka kauten. Auch Hungergefühle wurden unterdrückt und Schmerzen betäubt, - für beide Seiten ein Vorteil. Und nachdem die Kirche dann ein Zehntel der jährlichen Abgaben bekam, verlor Koka das Image als „Blendwerk des Teufels“.

 

Pharmakologische Studien zeigten, dass Kokablätter viele Vitamine und Spurenelemente enthalten, aber auch einen hohen Prozentsatz des Alkaloids Kokain, das allerdings beim traditionellen Konsum durch Speichel und Magensäfte in „Ecgonin“ umgewandelt und damit in seiner toxischen Wirkung sehr stark reduziert wird (ebd.: 434). Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es deutschen Chemikern, das Alkaloid Kokain zu isolieren, u.a. um es als Betäubungsmittel in der Medizin einzusetzen. Die Droge Kokain als weißes Pulver ist also ein industriell aus einer bestimmten Sorte von Kokablättern hergestelltes Produkt. Dieses wird zur Modedroge in Europa in den 1920er Jahren, - mit teilweise verheerenden gesundheitlichen Auswirkungen.

 

„Um die Jahrhundertwende gab es rund hundert verschiedene Getränke auf dem Markt, die einen Extrakt aus Coca-Blättern enthielten und frei käuflich waren.“ (Scheffer 1981: 429). Coca-Cola kam wenig später auf den Markt, allerdings nachdem den Kokablättern das Alkaloid Kokain entzogen worden war, es enthält dafür eine gute Portion Koffein.

 

 Ein Gedankenspiel: Um den hohen Konsum der Droge Bier im eigenen Land zu bekämpfen, beschließt die US-Regierung, Druck auf die bayrische Regierung auszuüben, den Anbau von Hopfen und den Konsum von Bier zu verbieten, ebenso schickt sie Flugzeuge, um die Hopfenfelder abzubrennen. Ein schwerer Anschlag auf die Kultur der Bayern! Undenkbar! Nicht jedoch, wenn wir statt Bier Koka einsetzen und statt Bayern Bolivien oder Peru: Auf der Grundlage einer Gleichsetzung des Naturprodukts Koka mit dem industriellen Produkt Kokain, was seine Gefährlichkeit betrifft, gab und gibt es viele solcher Versuche einer Einflussnahme auf die Andenländer, militärische Interventionen und vor allem Versuche, die indianischen Traditionen und ihre Lebensgrundlage zu zerstören. Immerhin lebt ein großer Teil der Bevölkerung vom Anbau der Pflanze, kennt sie seit Jahrtausenden und ist auch nicht kokainsüchtig.

 

Wein /Alkohol / Hochprozentiges

Man vermutet, dass die Menschen schon in der Frühzeit von Tieren lernten, dass bestimmte (rohe oder vergorene) Früchte fröhlich machten bzw. bestimmte Gräser und Kräuter eine Wirkung haben, so dass sie als Heilpflanzen genutzt werden konnten (Siegel 1981: 44). Vergorene Früchte aller Art, darauf sind nicht nur Ameisen oder auch Elefanten versessen. Honig wilder Bienen mit Wasser verdünnt ergab eine Spontangärung und war wohl das erste und jahrtausendelang das wichtigste alkoholische Getränk der Menschheit, der Met (Paczensky/Dünnebier 1999:153).

In Bali diente Palmwein als Opfergabe zur Besänftigung der Götter (Schaaremann 1981: 188ff). Der Rausch galt schließlich als Form religiöser Ekstase, Wein war Ritualgetränk, und in der überschaubaren Gemeinschaft war soziale Kontrolle garantiert. Andererseits war Wetttrinken bis zur Bewusstlosigkeit, manchmal über mehrere Tage wie bei den Inka, in vielen Kulturen üblich. „Im ägyptischen Kalender war ein Tag im Monat fürs Betrinken vorgesehen“ (Paczensky/Dünnebier 1999:158). Erzählungen von Trunkenheit – und auch Mahnungen zur Mäßigung – ziehen sich wie ein roter Faden von den alten Ägyptern (3000 v.Chr.) über die Griechen, Römer, Germanen bis ins 16./17.  Jahrhundert. Auch im alten China gab es eine hochentwickelte Weinkultur (Majlis 1981: 314ff).

 

„Wie gefährlich Alkohol auch immer sein mochte – vielerorts galt die Gefahr, die von schlechtem Wasser ausging, als größer“, und Alkohol wurde eher als Medikament und als Beitrag zur Ernährung betrachtet, besonders das Bier. „(..) so empfahl beispielsweise ein Arzt in der Normandie den Kindern Cidre“ (Paczensky/Dünnebier 1999:161).

 

Es ist leicht nachzuvollziehen, dass der gemeinsame Konsum bestimmter Sorten von Alkohol (Wein, Bier etc.) nicht nur der Stabilisierung der Gemeinschaft und des sozialen Netzwerks diente, sondern auch (und vor allem) den Reichen und Mächtigen ermöglichte, ihren Rang und Status zu signalisieren. Ritualisiert ist schon bei einigen Ureinwohnervölkern die nach Status geregelte Reihenfolge des Trinkens sowie (etwa bei den australischen Aborigenes) eine Prestigehierarchie der alkoholischen Getränke (Schweizer 1981: 81).

 

 

„Sie tranken heimlich Wein und predigten öffentlich Wasser“, so dichtete Heinrich Heine im 19. Jahrhundert. Er bringt damit auf den Punkt, dass die Reichen und Mächtigen zu den Trinkfreudigsten gehörten, zugleich aber das Volk zur Mäßigung aufriefen. Nicht nur mit Blick auf die alkoholischen Getränke, sondern auch auf Kaffee, Tee, Kakao und Tabak ist auffällig, dass der Konsum dieser „Kolonialwaren“ zunächst (und üppig) in der Oberschicht konsumiert worden war. Nachdem sich auch die breitere Bevölkerung diese leisten konnte, tauchten Warnungen auf („Gesundheitsschädigung“, „moralischer Verfall“…), es gab Verbote und harte Strafen. So galt etwa ihr Kampf auch den Kaffeehäusern, da sich dort die liberalen und herrschaftskritischen Kräfte sammelten (Austin 1981: 64 ff.). In seiner Beurteilung der „europäischen Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts“ (Titel) kommt Gregory Austin zur Schlussfolgerung, dass Kontrollbestrebungen wesentlich häufiger scheiterten als erfolgreich waren, was sicherlich auch daran lag, dass der Staat Steuern einnehmen konnte bzw. den Unternehmern Gewinne lockten aus dem Verkauf von Alkohol, Kaffee oder Tabak.

 

 

Zu einem ähnlichen Ergebnis kann man kommen, wenn man die Phase der Prohibition in den USA zwischen den beiden Weltkriegen betrachtet: Nachdem das Land im 17. und 18. Jahrhundert für seine Trinkfreudigkeit bekannt war, wurde im 19. Jahrhundert eine Abstinenz- und Mäßigungsbewegung immer stärker, und Alkoholismus wurde als neue Krankheit klassifiziert. Nicht die sozialen Probleme, die zu Alkoholismus führten, waren im Blickfeld, sondern der Stoff selbst. Anfang des 20.Jahrhunderts gelang es der „Anti-Saloon-Liga“ (ASL), eng mit der protestantisch-evangelikalen Bewegung verbunden, durch geschickte Lobbyarbeit viele Orte und Regionen „trockengelegt“ zu bekommen.  Bekämpft wurde die Bar als „Ort der Unmoral und des persönlichen Ruins“, als „unbürgerlich“ und „unamerikanisch“, - schließlich waren Kneipen auch die Orte, in denen sich die Arbeiter trafen und Gewerkschaften organisierten (Levine 1981: 128).

 

So schaffte es die ASL, dass zwischen 1920 und 1933 ein Zusatz in die Verfassung aufgenommen wurde, in dem das Alkoholverbot beschlossen wurde. Ein Teil der maßgeblichen Unternehmerschaft versprach sich davon wesentliche wirtschaftliche Vorteile: „nüchterne und enthaltsame Arbeiter würden größere Effizienz bedeuten“, statt für Alkohol würde der Lohn für andere Konsumgüter ausgegeben, es würde weniger Streiks geben, weil die Kneipen nicht mehr für die Versammlungen der Arbeiter und Gewerkschaften offen stünden etc. (ebd. 129). Interessanterweise bildete sich 1926 eine Gegenbewegung, die Lobbyarbeit für die Aufhebung des Alkoholverbots betrieb, - bestehend aus Präsidenten und Generaldirektoren vieler großer Konzerne: Neben steuerlichen Gründen war ihr Motiv, etwas gegen die zunehmende Missachtung der Gesetze durch die Armen zu unternehmen, schließlich wurde argumentiert, durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Alkoholindustrie bekämen die Länder und Gemeinden neue Einnahmequellen. „So wie man sich einst von der Einführung des Alkoholverbots eine Ära neuer Produktivität versprochen hatte, so versprach man sich nun von der Aufhebung genau das Gleiche“ (ebd. 130).

 

 

Tee und Opium

Es mag verwundern, diese beiden Produkte in einem Atemzug zu nennen, sie haben auch nur historisch etwas gemeinsam, aber das ist bedeutsam, weil es ein Licht auf die tragende Säule des britischen Außenhandels in der Epoche des Kolonialismus wirft und die Methoden der Ostindien-Gesellschaft, dem Global Player des damaligen britischen Empire. Der starke Teekonsum in England schuf eine riesige Nachfrage am Ende des 18. Jahrhundert, einer Zeit, in der das Finanzsystem in Europa wegen der Kriegswirren in Folge der Französischen Revolution durcheinandergeriet. „Es gab eine Inflation, und was die Teekäufer den Chinesen anbieten konnten, war 1801 für sie selbst schon 20 Prozent teurer geworden, 1810 gar 50 Prozent. Und der Teebedarf wuchs weiter. Da half Opium.“ (Paczensky/Dünnebier 1999:475).

 

Die Ostindien-Gesellschaft baute ab 1800 in Indien großflächig Opium an - als Zahlungsmittel, um damit chinesischen Tee kaufen zu können. Die Folge: In China breitete sich die Opiumsucht großflächig aus. Um 1880 schätzte man 20 Millionen Opiumabhängige in China. „Als der Kaiser von China drei seiner Söhne durch Opium verloren hatte, befahl er energische Maßnahmen gegen den Schmuggel und ließ die Vorräte in den Depots von Kanton vernichten. Doch damit löste er den ersten ‚Opiumkrieg‘ aus (1842 bis 1845), den britischen Kriegszug, der den Briten im Vertrag von Nanking Hongkong bescherte und den Europäern Handelsrecht in fünf Häfen verschaffte. Das war aber nur der Auftakt zu einer ganzen Serie weiterer westlicher Invasionen, zur ‚Öffnung‘ Chinas für den westlichen Handel, (..) zu massiven Demütigungen der Chinesen, an denen sich auch Russen und Japaner beteiligten. Der blutige Boxer-Aufstand um 1900 zeigte den Fremden, welchen Haß sie sich zugezogen hatten (..).“ (Paczensky/Dünnebier 1999:475f.).

 

In der Folgezeit gelang es der Ostindien-Gesellschaft, das chinesische Tee-Monopol zu brechen, indem in Indien und Ceylon (heute Sri Lanka) großflächig Tee angebaut wurde. Da sich in Sri Lanka die Einheimischen weigerten, auf den Plantagen zu arbeiten, wurden aus Südindien Tamilen dorthin gebracht. Sie werden als Minderheit heute noch diskriminiert, ein Grund für den Bürgerkrieg nach der Unabhängigkeit Sri Lankas.

 

 

Dieses Kapitel der Globalisierung bzw. des europäischen Kolonialismus in Gestalt der britischen Ostindien-Gesellschaft stellt jedoch nur einen vorläufigen Schlusspunkt einer jahrhundertelangen Konkurrenz mit den damaligen Kolonialmächten Portugal, Spanien, Holland und Frankreich dar, wie die Geschichte des Gewürzhandels zeigt: In den jeweiligen Kolonien der Länder wurden Zimt, Nelken, Muskat und Pfeffer angebaut, man machte sich durch Eroberungsfeldzüge gegenseitig die Produktion und das Monopol streitig, doch letztlich rang England alle Konkurrenten militärisch nieder, - zum großen Vorteil für seine Ostindien-Gesellschaft. (Paczensky/Dünnebier 1999:100 ff.)

 

 

 

Grenzüberschreitungen: „Der Traum der Vernunft gebiert Monstren“ (Goya)

 

Mit Genuss- und Rauschmitteln nähern wir uns den Grenzen zwischen dem Wachbewusstsein und „erweiterten“, ekstatischen Zuständen, zwischen dem Ich und dem Unbewussten. Schnell kommen wir dabei an Grenzen gesellschaftlicher und kultureller Konventionen, an Tabus, deren Überschreitung oft mit harten Strafen verbunden war und ist. Welches Genuss- und Rauschmittel in welcher Dosis toleriert oder auch sanktioniert wird, ist – wie wir gesehen haben – gesellschaftlich, kulturell und auch zeitabhängig. Wie die Kulturgeschichte zeigt, gibt es Epochen des gesellschaftlichen Umbruchs, in denen Ängste derart allgegenwärtig sind, dass solche Grenzüberschreitungen mit einer vorher nicht gekannten Härte bestraft werden. Dies soll im Folgenden am Beispiel der Verfolgung heilkräuterkundiger Frauen in Europa gezeigt werden, der sogenannten Hexenverfolgung. Dabei soll versucht werden, eben diesen Epochenwechsel ideengeschichtlich etwas genauer zu beleuchten.

 

Die Epoche der Renaissance (etwa ab 1500) wird in der europäischen Geschichtsschreibung als Beginn der Neuzeit bezeichnet, in gleicher Weise wird das 18. als „Jahrhundert der Aufklärung“ bezeichnet. Diese späteren Labels verdecken jedoch, dass beide nicht so eindeutig im hellen Licht erscheinen, wenn man genauer hinschaut. Denn Ängste, Okkultes und Magisches waren gleichermaßen gesellschaftlich und psychodynamisch wirksam, und die Vernunft versuchte, gegen dieses Dunkle an Boden zu gewinnen: Ein Etikett „Aufklärung“ oder „Vernunft“ erscheint wie eine nachträgliche Rechtfertigung.

 

Pauschal gesehen und in einem großen historischen Bogen gedacht, nimmt jedoch das Ich-Bewusstsein, die Rationalität und die Berechenbarkeit der Welt durch Naturwissenschaften und mathematisches Denken zu. Diese Phase des „zivilisatorischen Prozesses“, wie ihn Norbert Elias beschreibt, ist die Geburtsstunde der Neuzeit und der für sie (und unsere Zeit) charakteristischen Bilder vom Selbst und der Welt. Doch je mehr das magische, „irrationale“ Denken im Verlauf des Zivilisationsprozesses in den Hintergrund rückt, desto deutlicher entwickelt sich eine Haltung, die dem Klar-Bewusstsein die ausschließliche Wahrheit zuspricht. Transzendenz, wörtlich: Überschreiten einer Grenze, oder die Tiefen der menschlichen Psyche hatten in diesem Weltbild keinen Platz mehr.

 

Francisco de Goya, Maler am spanischen Hof im ausgehenden 18. Jahrhundert, dem „Jahrhundert der Aufklärung“, zeichnete ein Blatt mit der Schrift „Der Traum der Vernunft gebiert Monstren“[1]: (Inwiefern) Gibt es Zusammenhänge zwischen dem Wunsch nach Durchsetzung der Vernunft und Berechenbarkeit der Welt einerseits und den Ängsten, Ver-Teufelungen und der Ausgrenzung all dessen, was nicht (mehr) in dieses Bild passt, andererseits? Haben die zeitgleich stattfindenden Hexenverfolgungen, der aufflammende Antisemitismus und die Eroberungsfeldzüge etwa in Amerika möglicherweise einen inneren Zusammenhang?

 

 

Die Verfolgung heilkundiger Frauen ab dem ausgehenden Mittelalter bis etwa Mitte des 17. Jahrhunderts geht einher mit dem Aufkommen einer männlich bestimmten Naturwissenschaft und Medizin (Scherf 1990: 227), dazu passt der Befund, dass im 16. Jahrhundert alle Kleriker und hohe Beamte Rationalisten waren (Delumeau 1989: 563). Was sie in den Hexenprozessen durch Folter an Geständnissen erpressten, nahmen sie als Bestätigung dafür, dass diese Frauen gemeinsame Sache mit dem Teufel machten, - aus heutiger Sicht ein klarer Fall einer Sündenbockprojektion: Eigene Wünsche und Ängste – symbolisiert als „Teufel“ und Gespenster bzw. eigene Schwächen werden nach außen projiziert und dort bekämpft. Der Liedermacher Konstantin Wecker dichtet in seinem Song „Hexeneinmaleins“ (1981)[2]

 

 „Immer noch werden Hexen verbrannt auf den Scheiten der Ideologien. Irgendwer ist immer der Böse im Land und dann kann man als Guter und die Augen voll Sand in die heiligen Kriege ziehn“.

 

 Mit diesem Refrain bringt er auf den Punkt, was nicht unbedingt ein Spezifikum der europäischen Geschichte ist, sondern noch immer weltweit geschieht: Besonders in Krisenzeiten dienen Feindbilder und Konstruktionen von Fremdem dazu, Unsicherheit und Ängste vor Kontrollverlust zu kompensieren. So wie jemand mit einer rassistischen Haltung, der Abwertung anderer (wegen irgendeines Merkmals), sein schwaches Ich zu stabilisieren versucht.

 

Zunächst aber wollen wir einen Blick auf die halluzinogenen Pflanzen werfen, die von den „Hexen“ genannten Frauen verwendet wurden. Es gibt zwar keine zuverlässigen Quellen über die Rezepturen, aber gesichert scheint zu sein, dass Fliegenpilze, Nachtschattengewächse, besonders Bilsenkraut, Tollkirsche und Eisenhut Alkaloide enthalten, die „Gefühle des Fliegens, erotische Phantasien, visionäre Begegnungen und Haut- und Körperveränderungsgefühle“ auslösen, „wenn sie in entsprechenden Dosen eingenommen werden“ (Hauschild 1981: 362).

 

Ein Stich aus der Zeit um das Jahr 1500 mag symbolisch die Problemkonstellation verdeutlichen: Das sind Frauen, die sich in einer abgeschiedenen Hütte mit einer „Hexensalbe“ einreiben, einer Droge, die (wohl nach ihren Erzählungen) die genannten bewusstseinserweiternden Wirkungen haben. Außen vor bleibt der Mann, der den Aktivitäten der Frauen (neugierig? fasziniert? befremdet? voyeuristisch?...)  zuschaut. Soweit die neutrale Beschreibung.

 

Die Hexensabbat-Darstellungen des Malers Hans Baldur Grien[3]  illustrieren mit ekstatischen Nackt- und Tanzszenen die beschriebenen pharmakologischen Wirkungen, - Bilder, die den Hexengerichten Recht zu geben scheinen, denn eine solche „Zügellosigkeit“ ist in einer patriarchalen und von kirchlichen Männerbünden dominierten Gesellschaft schlicht herrschaftszersetzend, zumal die Männer – wie in dem alten Stich oben – dem Treiben der Frauen nur von außen zusehen können, also ausgeschlossen sind. Unterdrückte sexuelle Phantasien, Ängste wie auch Wünsche, finden in solchen Darstellungen einen Ausdruck – in einer Mischung aus Faszination und Abscheu, wie vieles, was einem „fremd“ erscheint. Schauen wir uns also etwas genauer das Welt- und Lebensgefühl der Menschen an, in deren Zeit naturkundige Frauen und Heilerinnen als Hexen verfolgt wurden.

 

 

In seinem epochalen Werk „Angst im Abendland“ stellt Jean Delumeau eine hochkomplexe Mischung „kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts“ (Titel) dar, einer Epoche, in deren Geburtswehen v.a. drei Bevölkerungsgruppen zu „Agenten des Satans“ wurden: 1. „Götzendiener und Muselmanen“, 2. „Der Jude, das absolut Böse“ und 3. „Die Frau“ (Delumeau 1989: 387ff.). Die Spanier sahen in den ab 1492 eroberten Territorien Mittel- und Südamerikas überall die „Macht des Bösen“ am Werk, sie fühlten sich daher legitimiert, diese „Götzendiener“ und „Teufel“ mit Kreuz und Schwert zu bekämpfen.

 

„In Amerika verrät die Christenheit, die dort eben Fuß gefaßt hat, durch ihre Aggressivität das Gefühl der Unsicherheit, das die Begegnung mit anderen Religionen in ihr hervorrief. Doch selbst in Europa wußte sie sich bedroht: Würde die türkische Invasion auf ihrem Weg nach Westen eines Tages haltmachen?“ (ebd.: 397) Diese Angst, dieses Gefühl des Belagerungszustands zeigte sich in vielen theologischen Schriften, vor allem aber bei Martin Luther Anfang des 16. Jahrhunderts in seinen Tiraden gegen die als „Dämonen“ bezeichneten Türken (ebd.:410). Der Antisemitismus, wie er in der heutigen Krisen- und Umbruchzeit wiederauflebt, war auch vor einem halben Jahrtausend in ganz Europa stark. Die Juden galten als „Urbild des ‚Anderen‘, des Fremden, der unverständlicherweise auf seiner Religion, seinen Verhaltensweisen und seinem Lebensstil beharrt, die so ganz anders sind als die der Gesellschaft, die ihn beherbergt. Diese hartnäckige und verdächtige Andersheit bestimmt die Juden für die Sündenbockrolle in Krisenzeiten vor.“ (ebd.:413).

Delumeau kommt zum Schluss, dass Spanien sich (zeitgleich) mit der Eroberung Amerikas, der Bekämpfung der Muslime wie der Juden im eigenen Land eine nationale Identität erkämpft hat, „ein Fels, an dem Häresien und alle Angriffe des Bösen zerschellten“ (ebd.:453). Anders formuliert: Grundlage für das wachsende Selbst-Bewusstsein als imperiale Macht war im Namen der „einzig wahren“ Religion die Bekämpfung des „Anderen“ und Fremden in Übersee wie auch im eigenen Land (Juden, Muslime). Mehr noch:

 

Der imperiale Habitus verändert in ganz Europa auch das Geschlechterverhältnis bzw. den Umgang mit dem „Irrationalen“.  Ebenso wie auf „den Juden“ wurde zeitgleich auf „die Frau“ das Bild des Teufels projiziert: Die Kirche hatte seit dem Mittelalter den hartnäckig sich behauptenden „heidnischen“ Fruchtbarkeitsriten, die von Frauen praktiziert wurden, den Kampf angesagt, sie wurden als „animalisch“ oder eben als „teuflisch“ denunziert. Das psychologische Pendant dieses Kampfes ist die männliche Angst vor Identitätsverlust:

„Der Faszination Circes erliegen heißt seine Identität verlieren. Von Indien bis Amerika, von den homerischen Gesängen bis zu den mahnenden Abhandlungen der Gegenreformation, findet sich das Motiv des verlorenen Mannes, der sich der Frau ausgeliefert hat. (..) Die Frau unterwerfen heißt daher, die Gefährlichkeit, die man ihrer grundsätzlichen Unreinheit zuschreibt, und ihre geheimnisvolle Kraft unter Kontrolle bringen“ (ebd.:461).

 

Die Aggressivität des Hexenwahns spiegelt die Stärke der Ängste wider, die man(n) mit der Abwertung von Andersgläubigen und Frauen in Schach zu halten versuchte. Und die Bilder eines Malers wie Hans Baldur Grien oder die Endzeitphantasien von Hieronymus Bosch zeigen, wie viele Ängste damals sexuell aufgeladen wirksam waren. Was Goya „Monstren“ nannte, findet bei Jean Paul, dem Dichter der Romantik, die Metapher „Dieses wahre innere Afrika“, so dass sich die Frage aufdrängt, „ob die Entdeckungsgeschichte des Unbewußten nicht auch als innere Kolonisierungs-, Aneignungs- womöglich Enteignungsprozeß zu verstehen ist“ (Lütgehaus1989: 7).

 

In Sigmund Freuds Konzept steht das erstarkte Ich zwischen dem („chaotischen“) Unbewussten einerseits und dem kontrollierenden „Über-Ich“ andererseits und hat lebenslang eine zentrale Balance- und Vermittlungsaufgabe. Nach Norbert Elias werden die Trieb- und Gefühlsimpulse, das „Chaos“ des Unbewussten durch das rationale Denken oder moralische Gewissen gewissermaßen gezähmt. Und er betont mehrfach, dass es sich hierbei um „Gestaltwandlungen des ganzen Seelenhaushalts durch all seine Zonen von der bewußteren Ich-Steuerung bis zur völlig unbewußt gewordenen Triebsteuerung hin“ handelt (Elias 1990:288). Er beschreibt den Prozess also als eine „Triebmodellierung“ in Richtung auf eine Beherrschung spontaner Affektäußerungen, eine Vornehmheit und Zurückhaltung mittels einer Domestizierung des „Wilden im Gesellschaftsinneren“, die die Leidenschaften in den Bereich des „dunklen Kontinents“ verwies (Muchembled 1990:231; vgl. Holzbrecher 1997: 27).

Im Gefolge dieser Triebmodellierung in Richtung auf eine verstärkte Selbstkontrolle wurden alle „niederen“ Affekte und „unmoralischen“ Verhaltensweisen – und zugleich sozial niedriger stehende Bevölkerungsschichten – diskriminiert, mehr noch: es wurden auch die „irrationalen“ Eigenschaften der Frau als Teil ihrer „Natur“ festgeschrieben.

 

Dass eine solche Selbst-Ermächtigung im Dienste der Vernunft Monstren erzeugt (vgl. Goya), erscheint einleuchtend, denn mit ihr einher geht eine zunehmende Verdrängung der Ängste, der „Teufel“ und „des Irrationalen“, so dass immer mehr Energie aufgewandt werden muss, um sie unter Kontrolle zu halten: eine klassische Konstellation für eine Projektion auf Außenstehende, die als „gefährlich“ identifiziert werden und in ihnen bekämpft werden. Die Geschichte zeigt also, dass der Sieg der Vernunft, die Stärke des europäischen Selbstbewusstseins gelingen konnte, weil man ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den kolonisierten Völkern im Globalen Süden entwickelte (Elias 1991: 326; vgl. Holzbrecher 1997:39 f.). Je mehr es gelang, mit Hilfe von Technik bzw. mathematischer und naturwissenschaftlicher Präzision die Natur zu beherrschen, desto eher hatte man das Gefühl, die Vielzahl der Ängste und Unsicherheiten kompensieren zu können[4] - bei gewachsenem Selbstbewusstsein und der Erkenntnis, die Welt beherrschen zu können.

 

 

 

Pädagogische Perspektiven

Der Bildungsarbeit kommt die Aufgabe zu, gesellschaftliche Entwicklungen und besonders Krisensituationen seismographisch wahrzunehmen und entsprechend angepasste Konzepte für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu entwickeln. In diesem letzten Teil soll daher versucht werden, Aspekte einer „Genusspädagogik“ ebenso zu erörtern wie mögliche Schlussfolgerungen aus der fundamentalen Krisenerfahrung, die wir pandemiebedingt erleben und die möglicherweise – wie in der Renaissance – zu den Geburtswehen eines Epochenwechsels gehört.

 

Während meiner Lehrtätigkeit am Heinrich Böll-Gymnasium in Troisdorf (bei Köln) war ich etwa zehn Jahre lang sog. „Drogenberatungslehrer“, und ich hatte mit meinem Kollegen Rolf Ilge Anfang der 1980-er Jahre das Konzept eines „Jugendseminars“ entwickelt, das in den Anfangsjahren noch „Drogenseminar“ hieß. Gegen teils erbitterten Widerstand vieler (konservativer) Kolleg*innen, die uns unterstellten, dass wir die Schüler*innen erst auf die Drogen aufmerksam machen würden, gelang es im Laufe der Jahre, bei abnehmendem Widerstand im Kollegium pro Schuljahr alle neunten Klassen für eine knappe Woche in die Jugendakademie Walberberg[5] zu fahren: Die Kooperation mit dieser Einrichtung ermöglichte es, dass wir uns weitgehend im Hintergrund halten konnten, während die Pädagog*innen des Hauses mit ihren Methoden aus der außerschulischen Bildungsarbeit nicht nur die Suchtproblematik, sondern vor allem die Themen bearbeiteten, die zu einem Drogenkonsum führen. Als Lehrpersonen lernten wir das besondere Potenzial außerschulischer Methoden der Bildungsarbeit schätzen, eine ausgezeichnete und notwendige Ergänzung zur Schulpädagogik. Sicher ging es dabei auch um Verbote des Drogenkonsums seitens des Gesetzgebers, in erster Linie jedoch um die Entwicklungsaufgaben, die sich den Heranwachsenden stellen und für die sie nach Lösungen suchen. Die Jugendlichen bei der Arbeit an ihren Entwicklungsaufgaben zu unterstützen, hielten wir für die beste Drogenprävention.

 

Über „rote Linien“ in der Drogenpolitik entscheidet die Politik, die Diskussion darüber muss gesellschaftlich geführt werden. Seit Jahrzehnten wird über die Gefährlichkeit von Haschisch gestritten, der Droge, die nach Alkohol und Tabak am dritthäufigsten konsumiert wird, die allerdings gerade hinter der „rote Linie“ platziert, also als illegal klassifiziert wurde. Gestritten (und mit Jugendlichen diskutiert) werden muss über psychische und körperliche Abhängigkeiten, vor allem über die verschwimmenden Grenzen zwischen beiden Formen, allerdings nicht nur von Haschisch, sondern auch von Alkohol, Tabak und auch der härteren Rauschmittel. Ob und inwiefern Verbote nützen (vgl. die Ausführungen zur Prohibition in den USA), mag ein weiterer Diskussionspunkt sein. Ein Kernpunkt dürfte jedoch in der Erkenntnis liegen, dass (natürlich drogenspezifisch) die Dosis die Wirkung macht, was nicht nur weltweit die Schamanen und Medizinmänner, sondern auch die heilkräuterkundigen Frauen („Hexen“) in Europa wussten. Bekannt sind auch potenziell, d.h. bei entsprechender Überdosierung, halluzinogene bzw. giftige Wirkungen etwa der Muskatnuss. Verbote dürften also v.a. bei Jugendlichen als „Leitplanken“ notwendig sein, wichtiger sind m.E. Konzepte zur Stärkung und Ich-Stabilisierung der Jugendlichen, um sie zu befähigen, selbstbewusst und achtsam mit sich und anderen umzugehen.

 

 Im Gang durch die Kulturgeschichte der letzten Jahrhunderte sowie der Nahrungs-, Genuss- und Rauschmittel im Kulturvergleich haben wir festgestellt, dass sich folgende Entwicklungslinien im Prozess der Zivilisation in Europa[6] identifizieren lassen:

 

o   Mit Beginn der Neuzeit werden vormals an die Menschen von außen herangetragene „Fremdzwänge“ umgewandelt in „Selbstzwänge“: Eine immer stärkere Trieb- und Affektkontrolle kennzeichnet diesen Prozess. Der Einzelne sollte zunehmend selbst Verantwortung für sein Verhalten innerhalb der Gesellschaft übernehmen – und dabei seine Leidenschaften im Griff haben, sich in Vornehmheit und Zurückhaltung üben und Konflikte weniger gewaltförmig lösen. Im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstand zudem die Erwartung, dass das menschliche Verhalten „industriekompatibel“ wird, d.h. sich nach den Normen einer ökonomischen Verwertbarkeit richtet (vgl. die Diskussion um die Prohibition in den USA).

 

o   Während in Ureinwohner-Gemeinschaften / Stammes- wie auch in traditionellen Gesellschaften klare, nicht hinterfragte Regeln und Tabus das Verhalten des Einzelnen wie auch das der Gemeinschaft prägten und „Grenzerfahrungen“ (z.B. in der Ekstase zum „Göttlichen“) durch strenge Rituale geregelt waren, entwickelt sich in der Neuzeit das Bedürfnis nach Ich-Entgrenzung, also nach einer Erweiterung des Bewusstseins durch Drogen. Die kulturgeschichtlich interessanteste Phase ist dabei sicherlich die (Literatur der) Romantik, die - neben der gefühlsgeladenen, heimelig-schönen Seite - vor allem die Abgründe der menschlichen Seele auslotete. E.T.A. Hoffmann und E.A. Poe entdeckten das gespaltene Ich und die „Faszination des Grauens“, Baudelaire bringt – im Opiumrausch – in seinen „Blumen des Bösen“ das Leiden des Schriftstellers zum Ausdruck, Novalis suchte schließlich mit Hilfe von Opium die „Blaue Blume“ und spürte „das Weltall in uns“. Sigmund Freuds „Traumdeutung“ (1900) markiert dann den Beginn einer wissenschaftlichen Erforschung des Unbewussten und der Grenze zum Wach-Bewusstsein, die heute etwa in der neuropsychoanalytischen Forschung weitergeführt wird. Wissenschaftlich erforscht wird heute ein breites Spektrum an Arten und Methoden einer Herbeiführung veränderter Bewusstseinszustände, etwa Tagträume, Nahtoderfahrungen, Meditationstechniken, psychoaktive Substanzen oder religiöse Ekstasen[7]

 

o     In seinem Buch „Die protestantische Ethik“ zeigt der Soziologe Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhundert den engen Zusammenhang zwischen einerseits der protestantischen Vorstellung, von Gott für einen Beruf auserwählt zu sein, und um ihm zu gefallen, eine entsprechende Leistung zu erbringen, asketisch und sparsam zu leben, Sinnenfreude zu unterdrücken… - und andererseits der Entstehung der kapitalistischen Wirtschaftsform und Lebensweise: Wirtschaftlicher Erfolg etwa als Unternehmer war die Bestätigung, von Gott auserwählt zu sein. Die Wirkungen von Calvinismus und Pietismus mit ihrer Sittenstrenge und Sinnenfeindlichkeit auf die Entstehung von (nicht verarbeiteten) Ängsten, auf deren Abspaltung und Verdrängung zeigt etwa Tilman Moser in seinem Buch „Gottesvergiftung“ (1976) oder Michael Haneke in seinem Film „Das weiße Band“ (2009): Haneke weitet mit seinem Film auch den Blick für den Zusammenhang von Unterdrückung, Demütigung, Ängsten, autoritären Ideologien bzw. faschistischen Haltungen – ausgehend von einer christlich-fundamentalistischen Familiengeschichte.

 

Vor dem Hintergrund des gesamten Szenarios der europäischen Kulturgeschichte gewinnt die Figur des selbstbestimmten Subjekts in der heutigen Zeit seine Konturen. Allerdings hat sich etwas entscheidend geändert: Zielperspektive ist heute eine Selbststeuerung und Entwicklung der Ich-Kräfte bei einer gleichzeitigen Achtsamkeit gegenüber eigenen Gefühlen, Ängsten und Wünschen sowie gegenüber anderen Menschen sowie der Umwelt.

 

 

Bildung für Nachhaltige Entwicklung sollte wie Ernährungsbildung auch einen Baustein „Bildung zur Genussfähigkeit“ enthalten. Dabei könnte es nicht nur um sinnenfreudiges, gemeinsames Kochen gehen, sondern vor allem um die Entwicklung pädagogischer Konzepte, die ein Artikulieren von Ängsten im geschützten Raum und kreative Suchprozesse ermöglichen.

 

Aus schulpädagogischer Perspektive erscheint die Grenzziehung zur außerschulischen Bildungsarbeit nicht mehr zeitgemäß, eine stärkere Integration von Konzepten einer Kulturellen Bildung ins schulische Lernen (im Kontext von Ganztagsbildung) ermöglicht dagegen imaginatives Lernen, die Arbeit an Vorstellungsbildern, Suchprozesse an der Kontaktgrenze zum „Fremden“, Unbekannten, Ambivalenten, - und damit Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten (vgl. Baquero Torres/Holzbrecher 2011). Musik, Tanz, Theater, Kreatives Schreiben, Filmen und Fotografieren sind nicht nur ein nice to have, sondern die wichtigsten Produktionsmittel, um individuelle und auch gemeinsame Suchbewegungen zu entwickeln.

Ein diffuses Gefühl von Angst und Unsicherheit nach außen tragen, etwa in Form eines Fotos, eines kreativen Textes, einer musikalischen Improvisation oder einer tänzerischen Darstellung, ermöglicht, eben dieser Gefühlsqualität eine Gestalt zu geben. Die Erfahrung in der Bildungsarbeit zeigt, dass gerade das spielerische Moment die Suche nach neuen Wegen aus der Krise begünstigt.

 

Gerade Übergangs- und Krisenzeiten bedürfen einer Haltung, sich bei jedem Schritt in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein zu vergewissern, wo man steht, Ziele (neu) zu setzen und kritisch in Frage zu stellen. Zeiten der Übergänge zwingen dazu, vom einfachen Ursache-Wirkung-Denkschema abzukommen und in komplexen Zusammenhängen denken zu lernen, Visionen zu entwickeln und zugleich pragmatisch den Weg beim Gehen zu entdecken, zivilgesellschaftliche Freiräume und Freiheiten erobern und zugleich realpolitisch die nächste konkrete Maßnahme angehen, Fremdheit, Unsicherheit und ambivalente Situationen als Risiko, aber zugleich als Entwicklungschance wahrnehmen. Solche Haltungen dürften für die demokratische Entwicklung unserer Gesellschaft überlebensnotwendig werden.

 

 

Literatur

 

Agiri, Babatunde A. (1981): Kola-Handel in Westafrika, in: Völger 1981, S.528-535

 

Austin, Gregory (1981): Die Revolution im europäischen Drogengebrauch des 16. Jahrhunderts (Tee, Kaffee, Tabak) im Vergleich zur heutigen Situation, in: Völger 1981, S. 64-75

 

Baquero Torres, Patricia / Holzbrecher Alfred (2011): Netze bilden & Lernkultur verändern: Öffnung der Schule nach außen und innen, in: Alfred Holzbrecher (Hg.), Interkulturelle Schule. Eine Entwicklungsaufgabe, Schwalbach/Ts. (Wochenschau), S.235-275

 

Delumeau, Jean (1989):  Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. Bis 18. Jahrhunderts, Reinbek (Rowohlt)

 

Elias (1990/1991) [1976]: Über den Prozess der Zivilisation (2 Bde), Frankfurt: Suhrkamp Tb

 

Hauschild, Thomas (1981): Hexen und Drogen, in: Völger 1981, S.360-367

 

Holzbrecher, Alfred (1997): Wahrnehmung des Anderen. Zur Didaktik interkulturellen Lernens, Opladen (Leske+Budrich)

 

Kennedy, John G. (1981): Erkenntnisse der medizinischen Qat-Forschung, in: Völger 1981, S.502-507

 

Levine, Harry G. (1981): Mäßigungsbewegung und Prohibition, in: Völger 1981, S. 126-131

 

Lütgehaus, Ludger (Hg.)(1989): „Dieses wahre innere Afrika“. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud, Frankfurt (Fischer)

 

Majlis, Brigitte (1981): Alkoholische Getränke im alten China, in: Völger 1981, S.314-319

 

Muchembled, Robert (1990): Die Erfindung des modernen Menschen. Gefühlsdifferenzierung und kollektive Verhaltensweisen im Zeitalter des Absolutismus, Reinbek (Rowohlt)

 

Moser-Schmitt, Erika (1981): Sozio-ritueller Gebrauch von Cannabis in Indien, in: Völger 1981, S. 542-545

 

Paczenski, Gert v./Dünnebier, Anna (1999): Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, München (Orbis)

 

Saleh, Ahmed (1981): Alkohol und Haschisch im heutigen Orient, in: Völger 1981, S.488-491

 

Schaaremann, Danker H. (1981): Palmwein im rituellen Gebrauch auf Bali, in: Völger 1981, S. 188-193

 

Scheffer, Karl-Georg (1981): Coca in Südamerika, in: Völger 1981, S.428-435

 

Scherf, Dagmar (1990): Der Teufel und das Weib. Eine kulturgeschichtliche Spurensuche, , Frankfurt (Fischer)

 

Schweizer, Thomas (1981): Alkoholkonsum im internationalen Vergleich, in: Völger 1981, S. 76-85

 

Sharon, Douglas (1981): San Pedro-Kaktus – Botanik, Chemie und ritueller Gebrauch in den mittleren Anden, in: Völger 1981, S.444-467

 

Siegel, Ronald K. (1981): Suchterscheinungen bei Tieren, in: Völger 1981, S. 42-47

 

duToit, Brian M. (1981): Cannabis in Afrika, in: Völger 1981, S.507-521

 

Uchtenhagen, Andros (1981): Gegenwärtiger Stand der Haschischforschung, in: Völger 1981, S. 788-791

 

Völger, Gisela (Hg.)(1981): Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich (Materialienband zu einer Ausstellung des Rautenstrauch-Joest-Museums für Völkerkunde der Stadt Köln (7.8.-11.10.1981)), Köln

 

 

 



[4] Die gegenwärtige Coronakrise belegt dies eindrücklich, denn zum einen hatten wir uns jahrzehntelang in Sicherheit gefühlt und gegen alles nur Erdenkliche versichern können, daher die Wucht der Verunsicherung mit dem Ausbruch der Pandemie. Zum anderen erhoffen wir uns von der Impfung, dass sie die unbekannten Viren in Schach hält und vernichtet

[5] Vgl. https://www.jugendakademie.de/seminare/seminare_mit_schulen/

[6] Es ist fraglich, ob Norbert Elias‘ Forschungsbefunde über Europa hinaus auch für andere Regionen der Welt Gültigkeit haben, schließlich soll vermieden werden, in alter Manier („eurozentrisch“) die Welt nach eigenem Maßstab zu messen und zu beurteilen