Die Entscheidung, was auf den Mittagstisch kommt, entwickelt sich kurz zuvor beim Blick in den Kühlschrank, nachdem ich beim Wocheneinkauf im Hofladen und im Supermarkt immer einen Grundbestand vor allem an frischem Gemüse einkaufe. Was muss als erstes verwertet werden? Was passt zusammen? Welches Gemüse könnte man roh, gegart, gedünstet, angebraten oder gebacken zubereiten und mit was kombinieren?
Kochen hat viel von einem künstlerischen Prozess, dessen Ergebnis zwar in Umrissen, skizzenhaft im Hinterkopf steckt, das aber mit jedem kleinen Schritt, mit der Entscheidung für diese Zutat oder jene Zubereitungsart erst entsteht und immer klarere Konturen annimmt. Bei jedem Künstler dürfte die Mischung zwischen Intuition und Bauchgefühl einerseits und relativ klarem Plan andererseits unterschiedlich ausfallen, ob es sich um Maler, Bildhauer oder Musiker handelt. Künstlerische Erfahrung wächst auf handwerklichen Grundlagen und auf Fantasie, Inspiration, der umzusetzenden Idee.
Mich interessieren gerade diese kleinen Schritte, diese Entscheidungen zwischen Bauchgefühl und Planung beim Kochen. Auf die kommt es an, wenn man kurzfristig unerwarteten Besuch bekommt, keine Zeit mehr zum Einkaufen hat und aus den Zutaten, die gerade verfügbar sind, etwas Interessantes zaubern möchte. Das sind die spannendsten Herausforderungen für kreative Genuss-Menschen.
Die flatternde Fledermaus
Das Bild einer flatternden Fledermaus hatte der Kreativitätsforscher Sybren Polet mal verwendet, um den kreativen Prozess zu beschreiben. In jedem Moment entscheidet die Fledermaus je nach Ortung der Umgebung, wie und wohin sie fliegt. Der Maler entscheidet sich für die rote oder die gelbe Farbe, - aus dem Kopf oder dem Bauchgefühl. Je größer seine künstlerische Erfahrung, desto größer ist seine Werkzeugkiste, aus der er auswählen kann, und desto souveräner sein kreativer Umgang damit. Große Kunst ist es, mit wenig Mitteln, ohne viel Schnickschnack etwas Beeindruckendes oder auch Schmackhaftes zu kreieren. Einfach und raffiniert!
Wer jeden Tag kochen muss, weil man es erwartet, weil es Tradition ist oder die familiäre Konstellation keine Alternativen zulässt, wird es als Last und Zwang empfinden, zumal wenn positive Rückmeldungen seitens der Angehörigen sich in Grenzen halten („Kinder kommt nörgeln, das Essen ist fertig“ habe ich mal auf einem Geschirrtuch aufgedruckt gelesen). Wie auch immer man den Lieben die kreative Küche nahe bringt, einem selbst bringt es schon einmal sehr viel. Abgesehen von der Müllvermeidung motiviert man sich, alte Denkmuster hinter sich zu lassen und ungewohnte Verarbeitungsweisen und Kombinationen von Zutaten auszuprobieren.
Wer in seinem Beruf oder auch beim Hobby kreativ sein will oder muss, wird in der Regel zwei Modi des Denkens miteinander kombinieren, das „divergente“ und das „konvergente“ Denken. Für ersteres stehen beispielsweise das Brainstorming, die unzensierte Ideensammlung, das „in die Breite“-Denken. Darauf folgt die Phase des Bündelns, Sortierens und Eingrenzens, etwa in Form eines Mindmaps, einer zeitlichen oder logischen Strukturierung.
Kreative Menschen verstehen es, beide Modi geschickt miteinander zu kombinieren bzw. je nach Aufgabe mal „in die Breite“ zu denken, mal auf den
Fokus hin zu zentrieren. Wer kocht (oder ein Bild malt, an einer Skulptur oder an einem Text arbeitet), hat das Ziel, den Fokus im Blick (ein wohlschmeckendes Essen), spielt aber phasenweise mit
dem divergenten Denkmodus, indem alternative Möglichkeiten (Zutaten, Zubereitungsarten) durchgespielt, kombiniert, skizzenhaft entworfen und vielleicht wieder verworfen werden. Insgesamt
programmiert man sich für einen flexiblen Arbeits- und Lebensstil – und übt sich in der Fokussierung auf ein Ziel, das nicht nur als ein kreatives Produkt Spaß gemacht und Befriedigung verschafft
hat, sondern auch als Prozess, als Flow, bei dem man so in die Arbeit vertieft ist, dass man mit ihr verschmilzt und die Mühen nicht (mehr) spürt.
Einen solchen kreativen Prozess können wir bereits bei der Suche nach einem Rezept im Internet beobachten: Auf einem der vielen Online-Rezept-Portale bekommt man auf die Frage, wie man etwa ein Chutney zubereitet eine Vielzahl von Rezepten angeboten, die man überfliegt, in sich aufsaugt, vergleicht, Gemeinsamkeiten und Variationen checkt…, bis man die Grundidee, das Basisrezept klarer sieht. Hat man dieses verstanden, kann‘s losgehen mit der kreativen Interpretation. Am Anfang hält man sich (vielleicht noch) an die Rezeptvorgaben, wird dann freier…: In Argentinien hatte ich im Straßenverkehr den Eindruck, Verkehrsschilder sind „Vorschläge“…, und ähnlich ist’s mit Rezepten. Wenn’s dann mal schief geht, kehrt man zurück und überlegt, was man wohl falsch gemacht hat. Doch dranbleiben heißt die Devise, denn viele dieser Vorschläge sind originell, weil man selbst nicht darauf gekommen wäre, diese und jene Zutat zusammen zu verarbeiten, zu kombinieren in dieser oder jener Form.