Es klang bereits in den beiden letzten Kapiteln an, dass der Gegensatz zwischen der Küche der Reichen und der der Armen sich wie ein roter Faden auch durch die Kulturgeschichte zieht. Und wenn wir etwa für das Mittelalter die Leibeigenschaft der armen Bauern sehen und daneben die Fürstenhöfe, können wir die These in den Raum stellen, dass die Armut der Einen und der Reichtum der Anderen sich wechselseitig bedingen. Beim Thema Hunger und Weltwirtschaftsordnung werden wir sehen, dass dies auch im weltweiten Maßstab gilt: Welche Kosten sind etwa in einer Avocado enthalten, die besonders in wasserarmen Ländern produziert wird?: 300 Liter pro Frucht werden veranschlagt, Wasser, das dann den Kleinbauern fehlt, die in der Umgebung der großen Plantagen leben? Wie berechnet man die ökologischen und sozialen Folgekosten für die Kleinbauern, die auf den Plantagen die Pestizide und Düngemittel ausbringen müssen? Oder das Beispiel Schokolade: Von dem Preis, den wir im Supermarkt für eine Tafel bezahlen, bekommt der Kakaobauer 4 Cent. Wie Armut und Reichtum zusammenhängen, wird uns also noch beschäftigen müssen, wenn wir den Anspruch nach einem Fairen Handel und ökologisch nachhaltiger Ernährung aufrechterhalten wollen.
„Das einfache Mahl“. Vermutlich kennen Sie Kochbücher, die dazu animieren, mit möglichst wenigen Zutaten eine Mahlzeit zuzubereiten. Etwa das von Yotam Ottolenghi mit dem Titel SIMPLE (2018), bei dem jedes Rezept aus nur 5 Zutaten gekocht wird. Was für uns eine kulinarische Herausforderung ist, war jahrhundertelang der Alltag in der Küche des einfachen Volkes: Im Mittelpunkt stand ein kohlehydrathaltiges Nahrungsmittel, dazu gab es als Geschmackslieferant etwa eine Sauce, der dritte Bestandteil waren Leguminosen als Eiweißlieferanten, also Gemüse, Hülsenfrüchte bzw. Pflanzen aller Art. Konkret bestand das „einfache Mahl“ aus Brei, Mus, Suppe oder Eintopf - den Hauptbestandteilen Roggen- und Gerstenmehl, Milch und Kohl bzw. Sauerkraut – und zwar jeden Tag!
Nehmen wir als Beispiel für die „arme Küche“ die Schwäbische Alb, die nicht umsonst die „raue Alb“ heißt. Im Vorwort zu ihrem Buch „Hunger ist der beste Koch“ schreibt die Autorin Gudrun Mangold: „Die uralten Rezepte fangen nicht einfach mit „man nehme“ an – man hatte zunächst einmal gar nicht.“ (2010:11). Starke Kälte im Winter, Wassermangel, da muss es etwas Warmes geben, z.B. Gebrannte Mehlsuppe aus Fett, Mehl und Wasser. Zumindest konnte man durch das Kochen, wenn das Wasser – wie so oft – verunreinigt war, den fauligen Geschmack überdecken. Brotreste landeten in der „Brotsuppe“ oder auch in der „Milchbrotsuppe“. Von großer Bedeutung im Dorf war das gemeinsame Backhaus, in dem jeder sein Brot, Kuchen oder auch Aufläufe aller Art backen konnte. Das Fleisch stammte oft aus dem eigenen Stall, nach der Hausschlachtung wurde alles verwertet, natürlich auch die Innereien. Kartoffeln spielten eine große Rolle, auch wenn die Ernte bei dem von Steinen übersäten Boden sehr mühsam war. Darüber hinaus gab es an Gemüse und Obst, was der Bauerngarten hergab oder was man im Wald sammeln konnte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Küche der Armen fast nur dunkles Brot gegessen wurde, während die Vermögenden sich helles (z.B. Baguette) leisten konnten. Die einfache Küche zielte darauf ab, die Familie und die Kinder satt zu bekommen und nicht hungern zu lassen. Die „Herrschaftsküche“ dagegen war stark genussorientiert, etwas, das sich z.B. Bauern nur ansatzweise und an großen Festen leisten konnten. Zumeist aßen die Reichen das Fleisch, das in der eigenen Kultur hohes Prestige genoss, während die Armen das essen mussten, was weniger „Wert“ hatte, - in den arabischen Ländern war das Rind an Stelle des höherwertigeren Lamms, in Europa Schwein statt Wild. Oder sie aßen das Kleinzeug, um das sich keiner kümmert, der genug zu essen hat: Würmer, Schnecke, Insekten (Paczensky/Dünnebier 1999: 47). Im Zuge einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft gab und gibt es eine Tendenz, beim „einfachen Mahl“ zu bleiben, aber mehr und mehr auf die Qualität der Zutaten zu achten, - so man es sich leisten konnte und kann.
Werfen wir mal einen Blick über den kulturellen Tellerrand und schauen, wie bei den Tuareg in Afrika gegessen wird:
Das einfache Mahl bei den Kel Ewey (Tuareg)
„Das Alltagsessen der Kel Ewey ist sehr einfach und jeden tag gleich. Zum Frühstück trinken sie ‚eghale‘, ein Gemisch von Hirse, Käse und Datteln, das mit Wasser angerührt wird. Zum Mittag- und Abendessen gibt es eine gekochte Mahlzeit, ‚ashin‘. ‚Ashin‘ ist eine feste Masse, also kein Brei, sondern das, was man bei uns früher Klump oder Kloß nannte, oder was in Italien als Polenta bezeichnet wird. Diese Polenta aus Hirse wird in einer Holzschüssel serviert, in die zusätzlich gesäuerte Kamel- oder Ziegenmilche geschüttet wird. Ein wöchentliches Feiertagsgericht gibt es nicht, aber besondere Festspeisen aus Reis oder Weizen anläßlich von Familienfeiern und großen islamischen Festen; außerdem wird eine Ziege oder ein Hammel geschlachtet.
„Ashin‘ und „eghale‘ haben eine lange Tradition. Der deutsche Afrikareisende Heinrich Barth, der Mitte des 19. Jahrhunderts als erster Europäer zu den Kel Ewey kam, erwähnt die gleichen Gerichte – übrigens sehr positiv. Er selbst aß zum Frühstück immer ‚eghale‘ und nennt es ‚wohlschmeckend‘ und ‚nahrhaft‘. In der Sicht der Kel Ewey ist die einfache Kost ebenfalls weder ein Zeichen von Armut noch von Barbarei, sondern schmeckt in jeder Hinsicht ausgezeichnet.“ (Spittler 1996:151 f)
Wir sehen also, kulturvergleichend betrachtet ist das „einfache Mahl“ nicht unbedingt ein Zeichen von Armut, sondern ein Mahl, das Identität stiftet und die Zugehörigkeit und das Gemeinschaftsgefühl stärkt. Es gibt vermutlich wenige Bereiche des Alltags, in denen sich – in allen Kulturen - die sozialen Verhältnisse derart klar widerspiegeln wie beim Essen und Trinken.
„Vor allem dienten die Mahlzeiten viele Jahrhunderte dazu, die entscheidenden gesellschaftlichen Gruppierungen scharf gegeneinander abzugrenzen und ständische sowie klassenspezifische Positionen zu markieren. Jahrhundertelang war es üblich, daß der Hausvater, der den vornehmsten Platz bei Tische einnahm, zuerst in die gemeinsame Schüssel langte und das größte Stück Fleisch bekam. Die sich an der Ernährung orientierenden sozialen Abstufungen zogen sich durch die gesamte Gesellschaft“ (Teuteberg 1996: 72).
Dieses Zitat zeigt zunächst, dass das Patriarchat in allen sozialen Schichten dominant war. Interessant wird es, wenn wir die Grenzen zwischen den Schichten, den sozialen Gruppierungen, anschauen bzw. die Dynamik, die sich hier zeigt: Im 18. Jahrhundert sehen wir deutlich, was sich zu allen Zeiten als Grunddynamik zeigen dürfte: Die sog. „höheren“ Schichten grenzen sich von den „unteren“ ab. Der Adel im 18. Jahrhundert vom einfachen Volk, und natürlich vom aufstrebenden Bürgertum, das sich seinerseits von den Bauern abgrenzte. Gleichzeitig wollten etwa die Bürger so sein und so leben wie die Adeligen, indem sie deren Verhaltensweisen nachahmten, etwa die Tischsitten und Benimmregeln, - „höflicher“ eben.
In der Herrschaftsküche entsprach der Aufwand und die Größe des Kochpersonals der Bedeutung der Aufgabe. Die Menge und die Qualität der Speisen und Getränke sollte Reichtum und Macht zeigen – gerade gegenüber geladenen Gästen aus anderen Regionen, aber auch gegenüber der eigenen Bevölkerung. So hatten etwa am chinesischen Hof vor 2000 Jahren den 4000 Personen, die dort beschäftigt waren, über 2000 mit Essen und Trinken zu tun, 128 Köche, 342 Fischspezialisten usw. (Paczensky/Dünnebier 1999: 60). Die Herrschaftsküche ermöglichte schon in der Antike, dass der Beruf des Kochs hoch angesehen war. Starköche waren immer gut ausgebildet und gehörten zu den Spitzenverdienern. Kulturell interessant ist, dass bereits im Mittelalter aus Rezeptsammlungen Kochbücher wurden, und Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks beschleunigte in der Renaissance diese Entwicklung.
Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.
So flott, wie dieser Satz daherkommt, er hat es in sich: Ein Theoriekonzept ist wie eine Spezialbrille, die ich aufsetze und damit Dinge und Strukturen sehe, die vorher für mich nicht sichtbar waren. Eine andere Metapher wäre das Fischernetz, das ich auswerfe: Je nachdem, wie eng die Maschen sind, fange ich bestimmte Fische, andere schlüpfen durch. Eine dritte Metapher wäre der Werkzeugkasten: Der Psychologe und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick hat mal den Satz geprägt „Wer nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel“. Will sagen: Je mehr Werkzeuge wir haben und je genauer sie sind, desto differenzierter erscheint uns die Welt.
Für die Alltags- und Kulturgeschichte schlage ich Norbert Elias und Pierre Bourdieu vor, deren Konzepte ermöglichen, besser zu verstehen, wie etwa „feines Benehmen“ oder „Geschmacksbildung“ soziologisch und auch psychologisch zu beschreiben sind – und sich als Bestandteile einer Kultur und ihres Wertesystems im Laufe der Zeit herauskristallisieren.
„Über den Prozess der Zivilisation“, so lautet der Titel des Klassikers von Norbert Elias, der nichts weniger versucht als eine Erklärung, nach welcher Logik der gesellschaftliche Prozess der Zivilisierung zu beschreiben ist, zugleich aber was diese gesellschaftlichen Erfahrungen mit den Menschen machen, wie sie sie wahrnehmen und verarbeiten. Mit dieser Verschränkung der psychologischen Ebene mit der soziologischen gelingt Norbert Elias etwas Einzigartiges, nämlich Antworten auf die Frage: Wie schreibt sich die Gesellschaft in die Menschen ein, und wie verändern diese dann wieder die Gesellschaft?
In der Begrifflichkeit von Elias sind die Ebenen der „Psychogenese“ und der „Soziogenese“ miteinander verschränkt. Mit Psychogenese lässt sich die langfristige Entwicklung menschlicher Persönlichkeitsstrukturen beschreiben, mit der spezifische Wandlungen des menschlichen Verhaltens einhergehen. Etwa eine Zivilisierung aggressiver Impulse, die dann nicht mehr wie zuvor zu blutigen Konflikten führen. Oder eine Zivilisierung der Tischsitten: Rülpsen und sonstige „unflätigen“ Geräusche waren jetzt tabu, man benahm sich eben gesitteter und höflicher. Mit „Soziogenese“ beschreibt er die langfristige Entwicklung gesellschaftlicher und sozialer Strukturen, der Macht- und Ordnungsstrukturen. Grob zusammengefasst lautet seine Antwort (die er vielfach empirisch belegt): Im Laufe der (langfristigen) Entwicklung der Gesellschaft finden Differenzierungsprozesse statt, z.B. geschlechtsspezifische Rollenverteilung, Macht- und Abhängigkeitsstrukturen. Damit aber – und das ist die Pointe – waren und sind die Menschen immer mehr aufeinander angewiesen und voneinander abhängig, - und dies erfordert ein hohes Maß an Selbstregulierung, Berechenbarkeit und Selbstkontrolle der Menschen.
Mit folgendem Zitat aus Elias‘ „Prozess der Zivilisation“ wird diese Grundidee einer Verschränkung von Psycho- und Soziogenese besonders deutlich: „Es verändert sich die Art, in der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind; deshalb ändert sich ihr Verhalten; deshalb ändert sich ihr Bewußtsein und ihr Triebhaushalt als Ganzes. Die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam ‚von außen‘ an den Menschen herankommt, die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen“ (PdZ II, 377).
Eine immer stärkere Trieb- und Affektkontrolle lässt sich nach Elias als „zivilisiert“ beschreiben: Man modelliert das eigene Verhalten, indem man sich an allgemeinen Verhaltensstandards orientiert, zunächst um Sanktionen zu vermeiden, dann eher aus Einsicht. Man bildet das aus, was Sigmund Freud als „Über-Ich“ bezeichnet hat, was auch als „Gewissen“, als Instanz des moralischen Empfindens verstanden werden kann. So wurden in der Renaissance die Benimmregeln, die étiquette der höfischen Gesellschaft zum Vorbild auch für niedrigere Schichten, eine „Verhöflichung“ fand statt, man war stolz über die Nähe zu adeligen Personen. Ehre und Prestige spielten eine große Rolle und es entwickelte sich ein Gefühl für Peinlichkeit und Scham, - dies nicht nur im Bereich der Sexualität, sondern auch beim Essen und Trinken. Diese psychosozialen Prozesse sind im 18. Jahrhundert insbesondere im aufstrebenden Bürgertum zu beobachten. Das Theater der Aufklärung (z.B. Lessing) gibt viele Beispiele für diese Dynamik.
Wir kommen damit zum zweiten, für unser Themenfeld bedeutenden Theoretiker, zu Pierre Bourdieu. Der französische Soziologe veröffentlichte 1979 ein Buch mit dem Titel „Die feinen Unterschiede“. Mit dem Begriff des „Habitus“ einer Person gelingt es ihm, genauer zu beschreiben, wie wir einerseits von unserer Lebenswelt geprägt werden (Habitus als „Produkt“ dieser Lebenswelt), andererseits handeln wir innerhalb der damit gesetzten Schranken oder Leitplanken, also nach der Logik und nach den Werten, die die Lebenswelt verkörpert (Habitus als „Produktionsprinzip“): Die Schicht oder das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, prägen meine Schemata der Wahrnehmung, des Denkens und Handelns und stecken damit grob den Rahmen ab für mein Verhalten. D.h. Menschen mit ähnlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern (nach Bourdieus ist das der „Klassenhabitus“) bewegen sich im gleichen „Raum sozialer Positionen“ und „Raum der Lebensstile“. Im Großen könnten wir diese Ähnlichkeit als „Kultur“ bezeichnen, die sich von anderen unterscheidet. Im Kleinen, also lebensraumbezogen, kann die Ähnlichkeit der Werte als gemeinsamer „Geschmack“ beschrieben werden, der sich etwa auf bevorzugte Lebensmittel, Ernährungsgewohnheiten, auf eine bestimmte Musik, auf Autos, Literaturvorlieben, auf Wohnraumgestaltung oder auf Sportarten bezieht.
Der Lebensstil bringt also innerhalb der Gruppe einen relativ einheitlichen „Geschmack“ hervor, mehr noch, er ist (in der Begrifflichkeit Bourdieus) die „Erzeugungsformel“ für Wahrnehmung, Denken und Verhalten. Damit schließt sich der Kreis, das Milieu reproduziert sich (tendenziell) selbst. Wir kennen den Spruch „was der Bauer nicht kennt, isst er nicht“. Sich auf einen unbekannten „Geschmack“ einzulassen, verunsichert zunächst, weil man nicht weiß, was da auf einen zukommt. In der Kindererziehung kennen wir die elterliche Reaktion „probier’s doch wenigstens“. Im Umgang mit Jugendlichen und Erwachsenen bleibt die Herausforderung, Türen zu öffnen, sich auf Neues und Fremdartiges einzulassen, - ein zentrales Anliegen der Interkulturellen Pädagogik.
Die Grafik der sog. Sinus-Milieus in Deutschland ( https://www.sinus-institut.de/sinus-loesungen/sinus-milieus-deutschland/ ), die schon im ersten Kapitel angesprochen wurde, halte ich im Bereich der Ernährungsgewohnheiten für außerordentlich interessant: In der horizontalen Dimension finden wir die „Grundorientierung“, also die Frage, ob sich jemand eher an bewährten Traditionen orientiert oder eher Neues entdecken möchte. Eine solche „Grundorientierung“ zeigt sich etwa auch in der politischen Zugehörigkeit: Ist jemand eher konservativ und traditionsorientiert oder eher progressiv und veränderungsbereit? In der vertikalen Dimension geht es um das Unten und Oben einer Gesellschaft, also die soziale Lage, und damit v.a. auch die Frage, wieviel Geld für das eigene Leben zur Verfügung steht. Natürlich ist es nicht nur die Verfügbarkeit von ökonomischem Kapital, das die „soziale Lage“ ausmacht, für Bourdieu ist darüber hinaus etwa das kulturelle oder das symbolische Kapital entscheidend.
Mit dem Konzept der Sinus-Forscher lässt sich eine Gesellschaft mit den Spannungsfeldern Traditions- vs. Innovationsorientierung einerseits und Armut vs. Reichtum andererseits in eine Matrix bringen, in der die einzelnen Milieus – mit Überlappungsbereichen – angesiedelt sind. Die SINUS-Forscher unterscheiden 10 unterschiedliche Milieus. Um die sog. „Bürgerliche Mitte“ im Mittelfeld finden sich auf der „konservativen“ Seite das Traditionsmilieu und „oben“ die „Konservativ-Etablierten“. Im oberen sozialen Bereich, also bei den Besserverdienenden, finden sich die „Liberal-Intellektuellen“, und weiter in Richtung Innovationsorientierung die „Sozialökologischen“, das „Performer-Milieu“ und die „Expeditiven“. Im „unteren Bereich“ sind neben den „Traditionellen“ die „Prekären“ und die „Hedonisten“ angesiedelt, dazwischen und stark in Richtung Innovationsorientierung finden sich noch die „Adaptiv-Pragmatischen“. Welche Werte, Denk- und Verhaltensmuster bzw. welche Lebensstile die jeweiligen Milieus kennzeichnen und zusammenhalten, kann man auf der Seite des Sinus-Instituts nachlesen. Dort finden sich auch entsprechende Milieudarstellungen etwa für Jugendliche bzw. junge Erwachsene sowie für migrantische Communities.
Lebensraumbezogen können wir also fast sagen, dass Milieus so etwas wie „Kulturen im Kleinen“ sind, die sich voneinander unterscheiden und abgrenzen lassen, die aber auch fließende Übergänge aufweisen. Bei den Angehörigen eines Milieus lässt sich eine Dynamik der Identitätsbildung (ähnlich wie zwischen „Kulturen“) beobachten: Man betont zum einen gemeinsame Werte, zum anderen grenzt man sich von einem anderen Milieu ab. Mit dieser doppelten Dynamik lässt sich die Identität generell beschreiben, ob es sich um eine Gruppe von Heranwachsenden handelt, um die Konstruktion regionaler oder nationaler Identitäten oder um das Konstrukt „Europa“, - wie bereits erwähnt.
Bezogen auf unser Themenfeld halte ich folgende Fragen für diskussionswürdig:
Es wurde erwähnt, dass im Kulturvergleich das sog. „einfache Mahl“ nicht nur die Mahlzeit für die Armen war, sondern eine Frage der Einfachheit des Grundrezepts mit wenigen Zutaten war. Allerdings gab und gibt es Speisen, die mehr und solche, die weniger Prestige hatten, - eine Wertigkeit, die sich im Laufe der Zeit und regional unterschiedlich entwickelte. Schildkrötensuppe, Hummer, Austern oder Algen waren jahrhundertelang Speisen der Armen. Heute gelten diese Speisen – mit verfeinerten Rezepten – zu den teuren Luxusspeisen. Diese Beispiele zeigen, dass Rezepte nicht nur über regionale oder Staatsgrenzen wandern, sondern auch von „unten“ nach „oben“ in einer Gesellschaft.
Zusammenfassend können wir festhalten, dass unsere Ernährungsmuster hochgradig kulturell kodiert sind. Nach unserer kulturgeschichtlichen Untersuchung können wir mit Elias und Bourdieu festhalten, dass diese kulturelle Codierung (oder Prägung) zum einen Elemente einer „Zivilisierung“ enthält: Stichwort „Verfeinerung der Sitten“ oder eine Sensibilisierung für das, was man als peinlich wahrnimmt, oder für die Grenzlinie des Sich-Schämens.
Im Anschluss an Bourdieu ist als weiteres und zentrales Element der kulturellen Codierung der „Habitus“ von Bedeutung, - Erzeugnis und Erzeugungsprinzip lebensweltlicher Erfahrungen. Was Bourdieu als „Klassenhabitus“ bezeichnet, kann mit der Milieutheorie genauer beschrieben werden: Menschen mit ähnlichen lebensweltlichen Erfahrungen, Haltungen und damit Denkmustern gruppieren sich zu mehr oder weniger homogenen und relativ stabilen Milieus.
Zu diskutieren bleibt abschließend die spannende Frage: Unter welchen Bedingungen können sich die Menschen von einem in ein anderes Milieu begeben? Oder bezogen auf unser Seminarthema: Wie kann es gelingen, gewohnte Ernährungsmuster aufzubrechen, Geschmacks-Grenzen zu erweitern und sich auf Neues einzulassen?
Interkulturell relevant wird diese Erkenntnis, wenn ich beginne, mir selbst bewusst zu werden, wie diese Codierungen entstanden sind: Welchen Einfluss haben meine biografischen Erfahrungen? Gab es in meiner Familie und im Freundeskreis bestimmte Nahrungsmitteltabus oder auch bevorzugte Speisen, die noch heute so etwas wie „Heimat“ spüren lassen? Oder waren diese Tabus und Essgewohnheiten durch die Religionsgemeinschaft gesetzt, in die ich hineingeboren wurde? Welchen Einfluss hatte das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, - und welchen die Region und die Kultur? Eine Beschäftigung mit diesen Fragen ist Teil einer professionellen Selbstreflexion im interkulturellen Feld. Erst wenn ich erkannt habe, dass mein „Geschmack“, meine Tabus und meine Wahrnehmung von Grenzen biografische und kulturelle Konstrukte sind, erst dann kann ich anderen ihren eigenen „Geschmack“, ihre eigene Wahrnehmung zugestehen: Eine zentrales interkulturelles Lernmoment!
Vor diesem Hintergrund gilt es dann Konzepte einer interkulturellen Didaktik zu entwickeln. Es wird also darum gehen, diese Fragen altersgerecht herunterzubrechen auf Ihre Schüler*innen, sie also anzuleiten, sich mit Fragen des Geschmacks, der Grenzen des Geschmacks und den Konstrukten der Eigengruppe, der Identität und der Kulturen auseinanderzusetzen. Rückblickend auf meine eigene berufliche Tätigkeit als Lehrer kann ich sagen: Auch wenn Ihre Schüler*innen die Unterrichtsinhalte vergessen haben, was bleibt, ist ihre Erinnerung daran, wie Sie selbst mit Ungewohntem, mit Fremdheit und ambivalenten Situationen umgegangen sind.
Literatur:
Bourdieu, Pierre 1987 [1979]: Die feinen Unterschiede, Frankfurt: Suhrkamp Tb
Elias, Norbert (1990 [1976]: Über den Prozess der Zivilisation (2 Bde), Frankfurt: Suhrkamp Tb
Hirschfelder, Gunther (2005): Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt/New York: Campus
Mangold, Gudrun (2010): Hunger ist der beste Koch. Karge Zeiten auf der rauen Alb – Rezepte und Geschichten, Tübingen: Silberburg, 5.Aufl. [2002]
(Paczensky/Dünnebier 1999:) Paczensky, Gert von; Maria Dünnebier (1999) [1994]: Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, München: Orbis
Spittler, Gerd (1996): Das einfache Mahl: Kost der Armen oder Ausdruck des feinen Geschmacks, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Hg.), Geschmacksache (Schriftenreihe Forum Band 6), Göttingen: Steidl, S. 140-158
Teuteberg, Hans J. (1996): Zur kulturwissenschaftlichen Phänomenologie der täglichen Mahlzeiten, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Hg.), Geschmacksache (Schriftenreihe Forum Band 6), Göttingen: Steidl, S.65-86