Manchmal fällt es schwer, an Zufälle zu glauben. Der Mangel an Lesestoff während einer Urlaubstour durch Südfrankreich trieb mich in die Buchhandlungen mehrerer Ortschaften, bis (m)ich in Uzès ein Buch entdeckte Le bonheur n’a pas d’age von Michel Allard. Es „öffnete Türen“, brachte auf den Punkt, womit ich mich gerade beschäftigte, und lag vom Sprachniveau knapp über meinem, also eine echte Herausforderung!
Was ist das Geheimnis der 100-Jährigen? Was ist das Besondere an den Menschen, die 100 Jahre alt werden im Gegensatz zu den meisten, die mit Ende 80/Anfang 90 Jahren sterben? Diese einfach klingende, aber hochkomplexe Fragestellung hat sich der Autor, französischer Arzt und Wissenschaftler, gestellt. Die Antworten, die wir aus der Studie bekommen, regen in jedem Lebensalter zu sehr grundsätzlichen Überlegungen über eigene Lebenseinstellungen an.
Mit dem Titel „Das Glück hat kein Alter“ wird die Frage knapp beantwortet: Dass Lebenserwartung und Glück sich wechselseitig bedingen, versucht er in seinem Buch philosophisch nachzuzeichnen und v.a. empirisch zu belegen. Michel Allard hatte in den 1990-er Jahren die Gelegenheit, an einer Studie mitzuarbeiten, bei der ein Drittel der damals 3000 Hundertjährigen in Frankreich befragt werden konnten, eine riesige Stichprobe! Das vorliegende Buch ist eine Art Metastudie, in der er zum einen die vorliegenden Studien zu diesem Thema zusammenfasst, zum anderen ein Konzept entwickelt, in dem er neben den geistigen Fähigkeiten der Kognition und der Emotion als dritten Bereich die „conation“ einführt, ein Schlüsselbegriff, der in einer ersten Annäherung als Lebensenergie übersetzt werden kann.
Zur Frage, was unter „Glück“ zu verstehen ist, führt Allard zunächst durch die Geistes- und Philosophiegeschichte, ebenso durch das Universum der (französischen) Alltagssprache mit ihren Sprichwörtern, um festzustellen, dass Glück weltweit und in allen Religionen zu dem gehört, was Menschen sich neben einem langen Leben wünschen. Eine Arbeitsdefinition: „Glück ist das stabile und dauerhafte Gefühl eines subjektiven inneren Zustands des Gleichgewichts, des Aufblühens und der Zufriedenheit unseres ganzen Wesens für seine tiefsten oder wesentlichsten Lebensziele, eine Lebenskunst, eine Kunst des Seins“ (43).
Im folgenden Kapitel, überschrieben mit „Glück erzeugt Langlebigkeit“, referiert er Untersuchungsergebnisse aus den Studien mit Hundertjährigen und identifiziert folgende „Indikatoren des Glücks“:
Verschiedene Testverfahren bestätigen, dass Hundertjährige meist zufriedener mit ihrem bisherigen Leben sind, sie „wissen, was Glück ist und bekennen sich mit großer Einfachheit dazu“ (70). Im Kapitel „Die Lektion der Hundertjährigen“ wird diese Spur weiterverfolgt, es werden die Studienergebnisse (aus Tests und Befragungen) dargestellt, die Antworten auf die Frage nach identifizierbaren Persönlichkeitsmerkmalen geben. Obwohl im Alter naturgemäß die körperlichen Fähigkeiten nachlassen und die Anfälligkeit für Krankheiten steigt, bleiben v.a. die Hundertjährigen körperlich und geistig in Bewegung und zeigen vor dem Hintergrund der o.g. Indikatoren eine auffällige Bündelung von spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen:
Sie haben gelernt, auch schwierige Situationen und Dinge zu akzeptieren, wie sie sind und wenn sie nicht zu ändern sind. Sie jammern nicht, schätzen die kleinen Dinge und können sich über vieles amüsieren und andere zum Lachen bringen. Auffällig ist vor allem eine aktive und neugierige Grundhaltung, sie lieben Herausforderungen und haben gelernt, sich anspruchsvolle, aber realistische Ziele zu setzen. Zu ihrem starken Selbstbewusstsein passt, dass sie darauf bedacht sind, wie sie auf andere wirken („Koketterie“). Sie haben ein hohes Maß an Resilienz entwickelt, d.h. an Fähigkeiten, Herausforderungen, Krankheiten oder Problemen zu wachsen bzw. daraus Stärke und Selbstvertrauen zu entwickeln. Dies führt bei ihnen dazu, dass sie widerstandsfähiger werden und dann auch Heilungsprozesse schneller verlaufen. Um sich gegen äußere Ansprüche oder gar Aggressionen, aber auch schlechte Nachrichten zu schützen, haben sie subjektiv passende Strategien entwickelt, dazu gehört auch, gezielt vergessen und Unangenehmes ausblenden zu können.
Diesbezüglich gibt es in der internationalen Forschung, so Michel Allard, große Übereinstimmungen. (Zum deutschen Forschungszweig bestätigt dies etwa auch die Heidelberger Hundertjährigen-Studie (vgl. Ende des Textes).
Vor diesem Hintergrund kommt Allard nun zu seinem Schlüsselkonzept „conation“, hier seine (etwas sperrige) Definition zum Anfang des Kapitels:
„Die conation umfasst alle natürlichen psychischen Funktionen oder Prozesse, die darauf gerichtet sind oder ausgeführt werden, eine Handlung einzuleiten, zu beginnen, fortzusetzen oder zu beenden, die oft zielgerichtet auf eine Veränderung ausgerichtet ist; dieser Prozess wird auch dann berücksichtigt, wenn er letztlich zu keiner Handlung führt, die die Einleitung, Änderung oder Beendigung eines bestimmten Verhaltens der Person, ihrer Einstellung oder ihrer Umgebung zur Folge hat. Obwohl der Prozess meistens konkret dazu führt, dass eine Handlung oder eine Kaskade von Handlungen ausgelöst wird, die das Individuum, sein offensichtliches Verhalten und/oder seine Umgebung verändert, kann er manchmal rein mental, intern, ohne jegliche äußere Manifestation bleiben, wie z. B. Antizipation oder Retrospektive, projektive und retrospektive Visualisierung oder die Intentionalität einer Handlung, die nie stattfinden wird oder bereits stattgefunden hat.“ (121f)
Einfacher ausgedrückt, stehen für diesen Bereich menschlicher Fähigkeiten Lebensenergie, eine Lebenskraft, die sich auf die Erhaltung von Leben richtet, Willensstärke, Anstrengungsbereitschaft, zielgerichtetes Denken und Handeln, die Fähigkeit, diese (Lebens)Ziele projektiv in die Zukunft zu denken, sie sich über innere Bilder vorzustellen, die Handlung zu antizipieren und dann schrittweise kleinzuarbeiten.
In einem wichtigen Kapitel beschäftigt sich Allard nun mit psychologisch oder/und neurologisch bedingten Störungen dieser Lebensenergie: Motivationsstörungen stehen an erster Stelle, also etwa Willensschwäche, Verlust von Spontaneität oder der psychischen Selbstaktivierung, Trägheit/Apathie bzw. der Verlust von Zielorientierung. Dann werden depressive Störungen, also Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, genannt. Als nächster Bereich Störungen des prozeduralen Gedächtnisses, also die Unfähigkeit, größere Probleme in Einzelhandlungen kleinzuarbeiten. Prokrastination könnte man mit „Aufschieberitis“ übersetzen, und schließlich gibt es als Störungsbereich die Erschöpfung, leere Batterien, das Gefühl innerer Leere und Interessenlosigkeit.
Zum Abschluss dieses Kapitels betont Allard u.a. die Bedeutung der Selbstwirksamkeit, also der Erfahrung, dass man eine Herausforderung erfolgreich bewältigt hat und daraus Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickelt, so dass man mit Blick auf künftige Herausforderungen zuversichtlich sein kann, diese ebenfalls zu bewältigen. Ein schöner Text (163) schließt das Kapitel ab, der als eine poetische Übersetzung von Selbstwirksamkeit bzw. eines stabilen Selbstkonzepts gelesen werden kann, das er gerade bei den Hundertjährigen feststellt:
Ich weiß, was ich will
Ich weiß, ich bin es wert
Ich weiß, wie ich mich fühle
Ich weiß, was ich weiß
Ich mache, was ich will
Ich mache, was ich sage
Ich mache, was ich fühle
Ich mache, was ich weiß
Ich spüre, was ich mache
Ich spüre, was ich kenne
Ich spüre, was ich fühle
Ich spüre, was ich weiß
Ich sage, was ich will
Ich sage, was ich spüre
Ich sage, was ich mache
Ich sage, was ich weiß
Ich will, was ich mache
Ich will, was ich sage
Ich will, was ich spüre
Ich will, was ich kenne
Im Anschluss an die Kapitel, in denen Allard Studienergebnisse darstellt, entwirft er sein Konzept einer „Trilogie“ der geistigen Fähigkeiten des Menschen: Neben der Kognition, dem Nachdenken über die Dinge, gehören dazu als zweiter Bereich die Emotionen, das Nachspüren und Fühlen, und schließlich die „conation“ für das Projektieren von Entscheidungen und Handlungen, eben jene Lebensenergie, die er gegen eine behavioristische Psychologie und Hirnforschung als zentrales Schlüsselkonzept behauptet.
Allard entwirft nun ein Modell, in dem – grafisch dargestellt – die kognitiven, affektiven und „konativen“ Fähigkeitsbereiche als drei Kreise mit großen Überlappungsfeldern konzipiert werden. Der kognitiven Domäne ordnet er z.B. Reflexion, Wissen, Erinnern, Verstehen zu, zur „konativen“ gehören u.a. Innovation, Lebensenergie oder Motivation, im Übergangsbereich zwischen beiden stehen Erfindung und Kreativität. Im Feld der affektiven Domäne stehen Liebe, Zärtlichkeit, Freude, Mitgefühl, Leidenschaft und Empathie, und im Übergangsfeld zur „conation“ die Kunst, das Verlangen, die Sehnsucht und die Kunst.
Gelingt es, diese drei Fähigkeitsbereiche in einer Balance zu halten, besser: in einem dynamischen Gleichgewicht, so die These, kann man auch im hohen Alter trotz der physischen Alterungsprozesse und der entsprechenden Einschränkungen in Bewegung bleiben: am Selbstwertgefühl arbeiten, Selbstwirksamkeit und Resilienz erfahren, den Humor pflegen, über viele Dinge lachen können, Träume und Leidenschaften pflegen, sich an neue Situationen anpassen, das Leben lieben, Glückserfahrungen machen, - eben das entwickeln, was Allard „attitude conative“ nennt.
Mir als „Bildermenschen“ gefällt auch ein Aspekt in seinem Buch, den er „visualisation“ nennt, und zwar sowohl mit Blick in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Die Hundertjährigen verstehen es offenbar, zurückschauend auf ihr Leben die besonderen und auch besonders schönen Momente sich bildlich vorzustellen (vielleicht sogar mit Hilfe eines Fotos), den Glückgefühlen oder dem Stolz nachzuspüren, die mit einer Situation verbunden sind. Zu einer „attitude conative“ oder einem „elan vitale“ gehört, solche inneren Bilder auch für die Zukunft zu entwickeln, Imagination / Vorstellungsbilder, mit denen ein Projekt im Ergebnis probeweise vorweggenommen und mit dessen Möglichkeiten noch gespielt wird. So verweist Allard auch auf die Erfahrung, dass man für Probleme, mit denen man sich beschäftigt, oft erst nach einer durchschlafenen Nacht Lösungen „wie von selbst“ findet: Während man im Wachzustand eher rational mit möglichen Lösungsvarianten spielt, werden im Halbschlaf oder im Traumzustand auch die emotionalen und „konativen“ Bereiche dynamisch und aktiv, die Tiefenschichten unseres Unbewussten, - als die Basis für die Stabilität des Selbstwertgefühls. Mit der „Trilogie“ des menschlichen Geistes, vor allem mit dem Konzept der „conation“ gelingt eine plausible Erklärung dafür, dass Glück und Lebenserwartung sich wechselseitig beeinflussen, insbesondere mittels der Konzepte „Resilienz“ und „Selbstwirksamkeit“.
Abschließend ein Zitat aus der 2.Heidelberger Hundertjährigen-Studie, die diesen Ansatz stützt: „Wir lernen also von hundertjährigen Frauen und Männern auch den schöpferischen Umgang mit der Verletzlichkeit der Existenz, wir lernen etwas über die grundlegenden Prozesse der psychischen Widerstandsfähigkeit oder Resilienz: Den Ergebnissen der vorliegenden Studie zufolge bildet das Eingebundensein in ein emotional intimes, vertrauensvolles, seelisch und geistig befruchtendes soziales Netzwerk eine bedeutende Komponente der Resilienz (..); doch nicht nur dieses Eingebundensein, sondern eben auch die tiefe innere Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst und die sich in dieser Auseinandersetzung vollziehenden Prozesse der Selbstaktualisierung und Aktualgenese sind hier von großem Gewicht.“ (Kruse 2013: 80)
Literatur:
Michel Allard, Le bonheur n’a pas d’age, Paris 2019 (le cherche midi)
Andreas Kruse, Ausblick – Potentiale des höchsten Alters: Die Verbindung von Introversion, Offenheit und Generativität Andreas Kruse, in: Robert Bosch Stiftung (Hg.)/ Daniela S. Jopp, Christoph Rott, Kathrin Boerner, Katrin Boch & Andreas Kruse, Zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie: Herausforderungen und Stärken des Lebens mit 100 Jahren (2013), S.80 (https://www.gero.uni-heidelberg.de/md/gero/forschung/zweite_heidelberger_hundertjaehrigen_studie_2013.pdf )