„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ist unter dem Dach der UNESCO zu einem Schlüsselkonzept geworden, mit dem die großen, epochalen Herausforderungen der Menschheit als Bildungsziele formuliert werden:
"Bis 2030 sicherstellen, dass alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben, unter anderem durch Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Lebensweisen, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Weltbürgerschaft und die Wertschätzung kultureller Vielfalt und des Beitrags der Kultur zu nachhaltiger Entwicklung". https://www.bne-portal.de/de/was-ist-bne-1713.html
Unbestritten ist, dass die genannten Problembereiche zu den epochalen Schlüsselthemen unserer Zeit gehören. Aus pädagogischer Sicht mindestens so entscheidend ist die Frage, wie das lernende Subjekt sich diese Bildungsinhalte und Kompetenzen aneignet, wie also die Sachperspektive mit der unserer Schüler*innen in ihrer Lebenswelt in Beziehung gesetzt wird. Interessanterweise beinhaltet das Konzept BNE genau diesen Aspekt eines umfassenden Bildungsprozesses:
„Das Konzept BNE beschreibt also eine ganzheitliche und transformative Bildung, die sowohl Lerninhalte und -ergebnisse, als auch die Pädagogik und die Lernumgebung berücksichtigt. Lehren und Lernen soll dabei auf interaktive Weise gestaltet werden, um forschendes, aktionsorientiertes und transformatives Lernen zu ermöglichen. BNE dient entsprechend nicht nur dazu, Nachhaltigkeitsthemen, wie Klimaschutz und Biodiversität zu thematisieren. Partizipative Methoden fördern etwa kritisches Denken, Teamfähigkeit und weitere Fähigkeiten. BNE unterstützt Lernende dabei, einen internationalen Blick zu entwickeln, der es ihnen ermöglicht, sich als Weltbürger zu verhalten. Das beginnt bereits bei den alltäglichen Entscheidungen.“
https://www.bne-portal.de/de/was-ist-bne-1713.html
Das Konzept formuliert also einerseits den Anspruch, zwischen den großen, epochalen Schlüsselproblemen und der konkreten Lebenswelt der Lernenden Verknüpfungen herzustellen. Andererseits sollen die Lern-Wege ins Blickfeld kommen, die eine Einübung in Schlüsselkompetenzen wie kritisches Denken, Teamfähigkeit etc. ermöglichen. Pointiert formuliert: Die Lernwege qualifizieren den Inhalt. Die Art und Weise, wie gelernt wird, d.h. mit welchen Methoden, in welcher (sozialen und architektonischen) Lernumgebung bzw. mit welchem didaktischen Arrangement, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, ob ein Lernprozess nicht nur zu einem Zuwachs an Wissen führt, sondern auch als persönlich bedeutsames Moment biografisch nachhaltig wirkt, das „berührt“ und damit zu einer reflektierten wie auch emotional tief gehenden Lernerfahrung wird.
Im ersten Kapitel hatte ich als Ausgangspunkt einer „zukunftsfähigen“ Bildungsarbeit die Frage formuliert
„Wie gehen Menschen mit Globalisierung, mit der Vielfalt der Lebensentwürfe, der kulturellen Wurzeln um? Wie nehmen sie die damit verbundene Unsicherheit, Fremdheit und Ambivalenz wahr?“
Diese Frage lenkt den Blick der Pädagog*innen darauf, wie die Lernenden Fremdheit und Unsicherheit wahrnehmen und wie sie in solchen Situationen ihre Identität konstruieren: Werden die Grenzlinien scharf gezogen, weil Fremdes als bedrohlich wahrgenommen wird? Oder gelingt es ihnen, die Vielfalt der Lebensentwürfe als Gestaltungsimpuls und produktive Herausforderung wahrzunehmen? Wir hatten ja festgestellt, dass gerade im Bereich der Ernährung Erfahrungen an und mit Grenzen gemacht werden, und solche Grenzziehungen thematisieren die große Entwicklungsaufgabe (nicht nur) der Jugendlichen:
o Wer / was bin ich bzw. will ich sein? Wer / was ist mir wichtig? Gehört zu mir / zur Sphäre des „Eigenen“…? (Selbst-Konstrukt)
o Wer / wie will ich nicht sein? Wer / was ist mir fremd? ..lehne ich ab, weil….? (Abgrenzung)
Die Grenzen des (guten) Geschmacks sind also immer auch solche, mit denen jede*r sowohl für sich selbst als auch durch Zugehörigkeit Antworten sucht. Diese (personale und soziale) Identitätsarbeit spiegelt den Prozess der Modellierung der Selbst- und Weltbilder.
Interkulturelles Lernen beginnt dann, wenn Menschen mit unterschiedlichen Wertesystemen, Wahrnehmungs- und Denkmustern versuchen, sich wechselseitig zu verstehen, - oder auch wenn man sich mit kulturellen Produkten aus einer fremden Welt auseinandersetzt, sei dies ein Roman, ein Theaterstück, ein Rezept oder Essgewohnheiten, mit denen man beispielsweise auf einer Reise konfrontiert sieht. Im Kern geht es um das „Inter“, den dynamischen „ZwischenRaum“ zwischen zwei Personen oder bei der Annäherung an einen fremden Alltag bzw. ein kulturelles Produkt:
Didaktik ist die Kunst, Lehren vom Lernenden aus zu denken
… und die Sachperspektive (Lerninhalte, Wissen, Kenntnisse, fachliche Kompetenzen…) mit der Perspektive der Schüler*innen in ihrer Lebenswelt zusammenzudenken. D.h. es geht nicht nur einfach darum, Schüler*innen Wissen z.B. über weltwirtschaftliche Strukturen und Ernährung zu „vermitteln“, sondern Lernarrangements zu entwickeln, die es den Lernenden ermöglichen, sich Inhalte und Kompetenzen selbst anzueignen, - in kleinen Schritten oder in größeren Sprüngen.
Sachperspektive (Wissen über Welternährung, Klimawandel, Kolonialismus / Welthandelsstrukturen..)
Lernwege
Lebenswelt Subjektperspektive
Ernährungsmuster, Milieu, Identitätskonstrukte ... Geschmack/Geschmacksgrenzen
Handlungsspielräume / Möglichkeit von Selbstwirksamkeitserfahrungen
Vor dem Hintergrund meines didaktischen Konzepts Interkulturellen Lernens (vgl. Holzbrecher 2015) lassen sich für unseren Problembereich „Esskulturen“ im Kontext einer „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ v.a. folgende Lerninhalte erschließen:
Unsere kulturgeschichtliche und interkulturelle Perspektive erschließt darüber hinaus weitere Themenfelder:
Bildung für nachhaltige Entwicklung
... beansprucht, zukunftsfähige pädagogische Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit zu geben. Wenn also die Sachperspektive (s.o.) mit der der lernenden Subjekte zusammengedacht wird, scheint von großer Bedeutung zu sein, dass die Schüler*innen im Lernprozess und durch das didaktische Arrangement bzw. die Lernwege die Möglichkeit zu bekommen, Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen.
Erfahrungen, etwas geleistet und erreicht zu haben, für das man Anerkennung und Wertschätzung bekommt, stärken das Selbstwertgefühl und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, - Voraussetzung dafür, in ambivalenten Situationen handlungsfähig zu bleiben und „Fremdheit“ als produktive Herausforderung wahrzunehmen.
Es gibt wohl wenige Lernfelder, in denen Erfolgs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen vor Ort, im überschaubaren Nahbereich, dazu führen können, sich „generativ“ immer komplexere Zusammenhänge (Welternährung, Strukturen des Welthandels…) schrittweise zu erschließen, sich solidarisch zu zeigen für die Kaffeepflanzerinnen in Kolumbien, die Helfer bei der Kakaoernte in Ghana oder die Näherinnen unserer Jeans in Bangladesch ….
Didaktische Prinzipien
Daniel Fischer (2008: 9ff) akzentuiert folgende didaktische Prinzipien einer „Nachhaltigen Ernährungsbildung“:
Problemorientierte Mehrperspektivität
Das Lernfeld ist in seiner Vielfältigkeit als ein „Netzwerk“ zu verstehen, in dem sich die Teilbereiche wechselseitig beeinflussen. Pragmatisch gesehen dürfte ein*e Lehrer*in von der eigenen Fachperspektive ausgehen und auf andere Dimensionen verweisen.
Ziel- und Interessenskonflikte aufdecken und austragen
Wichtig ist, an „Dilemma-Situationen“ zu lernen, Zielkonflikte der unterschiedlichen Akteure (Bauern, Landbesitzer, Spekulanten…, Verbraucher) zu diskutieren, abzuwägen, eine begründete eigene Position zu erarbeiten – und damit zu lernen, mit Uneindeutigkeit umzugehen und konfliktfähig zu werden
Erziehung zur Genussfähigkeit
Es geht um das Ziel nachhaltig zu essen, nicht nur sich zu ernähren. Essen steht immer auch für Genuss, und das altbekannte Lernen mit allen Sinnen ist ein bedeutsamer Schritt in Richtung Genussfähigkeit.
Darüber hinaus schließt unsere interkulturelle und kulturgeschichtliche Perspektive weitere didaktische Prinzipien auf:
Geschmackserziehung
Interkulturell bedeutsam ist die Fähigkeit, sich auf Neues einzulassen, Grenzen des eigenen Geschmacks auszuloten, Erfahrungen mit fremden Rezepten zu reflektieren, Normalitätsvorstellungen zu relativieren.
Aufgabenorientierung
Die hohe didaktische Kunst besteht in der Modellierung von Aufgaben, die den Lernvoraussetzungen der Schüler*innen angemessen sind. D.h. sie sollen so herausfordernd sein, dass sie Erfahrungen von Selbstwirksamkeit ermöglichen.
Durchgängige Sprachbildung
Unser Lernfeld macht deutlich, dass Blicke über den Tellerrand sehr lehrreich sind und ermöglichen, Normalitätsvorstellungen zu relativieren. (Sozio)Kulturell heterogene Lerngruppen bieten Potenziale, Sprachenvielfalt wertzuschätzen und zugleich durchgängig dem Ziel einer „Bildungssprache für alle“ näher zu kommen. Nur damit dürfte es gelingen, Bildungsbenachteiligung abzubauen.
Habitus der Annäherung
Am Anfang jeden Lernens steht oft eine Irritation. Im didaktischen Prozess soll sie als Lernimpuls wirken, der dazu beiträgt, eine Neugier- und Aufmerksamkeitshaltung zu entwickeln – und sich dem Neuen schrittweise und reflektiert anzunähern. Welches methodische Arrangement unterstützt diese didaktische Zielvorstellung?
Ein erster und wichtiger Schritt wäre, interkulturelle und globale Perspektiven in den bestehenden Unterrichtsfächern zu entdecken und zu erweitern. Darüber hinaus wäre zu fragen, welche Formen eines fächerübergreifenden bzw. -kooperierenden oder eines interdisziplinär angelegten Projektunterrichts entwickelt werden können.
Eine zukunftsfähige Bildung beinhaltet, nicht nur Anderes, sondern auch anders zu lernen.
Es wäre ein Paradigmenwechsel, wenn nicht mehr danach gefragt würde, was man Schüler*innen vermitteln müsste, sondern wenn am Anfang der didaktischen Planung die Frage steht: Wie kann ich den Lernprozess so anstoßen und gestalten, dass die Lernenden sich die Gegenstände und Kompetenzen selbst aneignen und schrittweise die immer komplexeren Zusammenhänge erschließen können? Abschließend ein Versuch, mögliche Antworten auf diese Frage zu finden, indem wir uns vor Augen halten, wann wir selbst lernen wollen (vgl. Holzbrecher 2008):
Wir lernen, wenn wir erkennen, dass das, was wir lernen, einen Bezug zu unserem Alltag hat und wir damit unsere Lebenswelt besser verstehen und selbstsicherer handeln können.
Besser gelernt wird, wenn uns die Dinge berühren, etwa wenn wir uns mit Menschen identifizieren können: Warum nicht einen Sachtext umschreiben in eine Story, in der Menschen leben, leiden und sich freuen…?
Wer eine schwierige Aufgabe erfolgreich bewältigt hat, entwickelt eine grundsätzliche Haltung bzw. die Erwartung, dass künftige Herausforderungen ebenfalls gemeistert werden können. Ebenso entwickelt man Ausdauer und bringt (empirisch nachgewiesen) bessere Leistungen, vermutlich wegen des gewachsenen Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten
Wir lernen besonders dann, wenn wir eine Wertschätzung erfahren für die eigene Person sowie für das, was wir geleistet haben (Stärken-/Schwächen-Profil).
Wir sind auf soziale Kontakte hin angelegt und lernen besonders gut, wenn die emotionale Qualität in der Gruppe stimmt.
Die Authentizität, Echtheit, Überzeugungskraft und das Engagement der Lehrperson für ein Fach wirken ansteckend: Die wichtigsten Medien sind wir selbst!
Entwicklungsaufgaben stellt die Gesellschaft an die Lernenden (vgl. Bildungspläne), aber die Lernenden stellen sie sich auch selbst, indem sie sich an den Aufgaben abarbeiten, die sich ihnen stellen (Unabhängigkeit von Eltern, Selbstständigkeit, geschlechtliche Rolle…, Identitätsentwürfe entsprechend dem psychosozialen Entwicklungsstand). Es ist eine Arbeit an äußeren Widerständen (z.B. gesellschaftlichen Erwartungen), aber auch an „inneren“ Widerständen (Erwartungen, Ängsten, Wünschen).
Zu den stärksten Lernmotiven gehört, etwas verändern und die eigene (Lebens)Welt aktiver mitgestalten zu wollen (vgl. Fridays for Future u.a.). Dieses Lernmotiv aufzugreifen und die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass es nicht schnell wie ein Strohfeuer erlischt, dürfte zu den grundlegenden Entwicklungsaufgaben der Schule gehören: Nirgendwo lernt man biografisch „nachhaltiger“ als in selbstorganisierten (und dezent moderierten) Arbeits- oder Projektgruppen, die sich nach innen als Lerngemeinschaften verstehen und nach außen öffentlichkeitswirksam agieren. Vor allem hier eignet man sich Sachkompetenz an, der Gestaltungswunsch und das emotionale Erleben hält die Gruppe zusammen, so dass auch frustrierende Erlebnisse gemeinsam aufgearbeitet werden können.
Literatur
Daniel Fischer (2008): Esskulturen und die Interkulturalität von Ernährung https://www.bne.uni-osnabrueck.de/pub/uploads/Baikal/fischer08esskulturen.pdf [3.12.2020]
Alfred Holzbrecher (2015): Schlüsselbegriffe einer interkulturellen Didaktik, in: Alfred Holzbrecher / Ulf Over (Hg.), Handbuch Interkulturelle Schulentwicklung, Weinheim und Basel (Beltz), S.316-327)
Alfred Holzbrecher (2008): Zumutungen von Freiheit: Forschend Lehren lernen an einer Freien Alternativschule, in: Th. Rihm (Hg.), Teilhaben an Schule. Zu den Chancen wirksamer Einflussnahme auf Schulentwicklung, Wiesbaden 2008, S.265-275