„Arabica“ ist die Kaffeesorte, die bei uns am verbreitetsten ist. Mit „Turquerie“ wird eine Modewelle v.a. im 18. Jahrhundert auf den Begriff gebracht, als türkische Kleidung, Malerei, Kunst oder Musik beim europäischen Adel Europas sehr beliebt waren und hochgeschätzt wurden. Im folgenden 19. Jahrhundert, dem prüden, von der viktorianischen Moral geprägten, entstehen dann die exotisch-erotisch aufgeladenen Orientphantasien englischer und französischer Maler, die „Odalisken“. Sie legen allerdings die Vermutung nahe, dass diese Bilder mehr über die Maler in ihrer Zeit und Gesellschaft aussagen als über die abgebildete Realität. Und diesen Gedanken weiterführend, können wir die „Beziehungsgeschichte“ zwischen Europa und dem Orient aus interkultureller Perspektive beleuchten, indem wir folgenden Fragen nachgehen:
Der Kaffee als anregendes Genussmittel in einem ersten Teil der folgenden Ausführungen steht exemplarisch für das „Kaffeeland Arabien“, verknüpft mit dem Problemfeld der Jahrhunderte alten Beziehung europäischer Staaten zum türkisch-arabischen Kulturraum.
Kaffee
In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde im arabischen Kulturraum Kaffee zum Massengetränk, nicht zuletzt, weil das osmanische Reich sich durch Eroberungen über Syrien, Mekka, Medina, Jemen bis nach Ägypten ausdehnte und die Anbaugebiete in ihrer Hand waren. Waren es Besucher aus Europa, die Mitte des 16. Jahrhundert einige der etwa 600 Kaffeehäuser in Konstantinopel besuchten und das anregende Getränk kennenlernten, ebenso eine Institution, in der Unterhaltung und Kultur lebendig waren und Geschichtenerzähler oder Schattentheaterspieler ihre Kunst zeigten? Jedenfalls brachten 1615 Venezianer den ersten Kaffee nach Italien, einige Jahre später eröffnete dort das erst Kaffeehaus Europas - und löste in allen europäischen Großstädten innerhalb kurzer Zeit eine Welle der Gründung solcher Kaffeehäuser aus, die sich um 1700 schnell zu Zentren des kulturellen Austauschs entwickelten.
Doch schon im osmanischen Reich waren diese Kaffeehäuser den Herrschenden ein Dorn im Auge, so auch in Europa: Die österreichische Regierung unter Metternich schleuste Spitzel ins Wiener Kaffeehaus, nachdem dort offenbar zu „freimütige“ Äußerungen über die herrschenden Zustände gesprochen wurde. Auch der englische König Karl II. wollte die Kaffeehäuser in London schließen lassen, weil dort „viele falsche, überwollende und skandalöse Berichte entworfen und im Ausland verbreitet würden, um die Regierung zu diffamieren“ (Paczensky/Dünnebier 1999: 469). Der Institution Kaffeehaus kommt also offenbar eine bedeutende Rolle beim Kampf um Meinungsfreiheit in Europa zu.
In den europäischen Oberschichten war Kaffee fester Bestandteil der Alltagskultur geworden, in den ärmeren Schichten allerdings erst im 19. Jahrhundert. In Hamburg und Leipzig kamen Frauen schon um 1715 auf die Idee, sich im kleinen Kreis zu einem „Kaffeekränzchen“ zu treffen, eine kleine, sanfte Revolution in einer männerdominierten Gesellschaft. Die nebenstehende Grafik aus dem 19. Jahrhundert (Paczensky/Dünnebier 1999: 470) zeigt, dass diese neue Form des „Klublebens“ auch bei der breiten Bevölkerung angekommen ist.
Den Kanon
„C-A-F-F-E-E trink nicht so viel Caffee
Nichts für Kinder ist der Türkentrank
Schwächt die Nerven, macht dich blass und krank
Sey doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann
haben die Älteren unter uns noch im Musikunterricht der Grundschule gelernt. Neben seinem fremdenfeindlichen Grundton verweist er letztlich auf die starke Bewegung der Kaffeegegner im 18. Jahrhundert aus dem Kreis der Mächtigen, die den Kaffeekonsum des breiten Volkes für „gesundheitsschädlich“, „überflüssig“ oder „unmoralisch“ hielten, - Argumente vonseiten derjenigen, die im Kaffee eine Konkurrenz zum Bier sahen.
Eine Verbotswelle schwappten über die deutschen Lande, bis schließlich Friedrich der Große in Preußen die Einfuhr und das Rösten des Kaffees zum Staatsmonopol erklärte. Jetzt musste jeder, der mit Kaffee handeln wollte, entsprechend Steuern bezahlen. Aber: „Wieder einmal bekamen nur Adlige, geistliche und höhere Beamte ‚Brennscheine“, gleichzeitig zogen preußische „Kaffeeriecher“ durchs Land und schnupperten nach illegalen Röstereien (Paczensky/Dünnebier 1999: 463).
Was die ökonomische Seite des Kaffeehandels betrifft, lässt sich wie bei vielen anderen „Kolonialwaren“ (vgl. Tee, Gewürze…) ein Muster erkennen: Heute wird klar als „Biopiraterie“ bezeichnet, was die europäischen Kolonialmächte machten. Das entdeckte neue Produkt, hier der Kaffee, wird in den von ihnen eroberten Ländern auf der ganzen Welt angebaut, und schon um 18oo war dieser Globalisierungsprozess bereits abgeschlossen. Damit wurde das Monopol der Herkunftsregion Arabien gebrochen, die großen Gewinne strichen nun die großen europäischen Handelsgesellschaften ein.
Bis heute hat sich dieses System erhalten, dass der Rohstoff importiert wird, während die gewinnträchtigere Weiterverarbeitung in Zentraleuropa stattfindet. Ähnlich wie etwa die ölproduzierenden Länder sollten Kaffeeabkommen und ein Zusammenschluss der Kaffeeproduzenten die Preise stabilisieren, ein gescheitertes Vorhaben, denn seit dem 1.Juli 1989 unterliegt der Kaffeepreis wieder dem freien Markt, er stürzte ab - mit gravierenden Folgen für die weltweit etwa 25 Millionen Kaffeebauern und ihre Familien (Soentgen 2006:324f).
Der Islam, das Abendland und seine Bilderwelten
„Von Anbeginn an wurde der Islam, der das christliche Nordafrika überrollte, Spanien eroberte und erst an der Loire zum Stehen gebracht wurde, als schlimme Bedrohung empfunden. Das abendländische Christentum fühlte sich durch den unerwarteten Nebenbuhler in seiner Existenz bedroht“ (Schaefer 1995: 25). Da man sich im rechten Glauben fühlte, konnte der Andersgläubige nur ein „Lügner“ oder „Gottesleugner“ sein.
Trotz dieses grundsätzlichen Misstrauens gab es in Spanien eine kulturell sehr interessante Zeit zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert, als islamische, christliche und jüdische Philosophen und Übersetzer mit der Aufarbeitung des Wissens der Antike die Grundlage schufen für unsere moderne Medizin, Natur- und Geisteswissenschaften. Doch nach dieser Phase eines friedlichen und fruchtbaren Kulturkontakts folgte mit der Eroberung Konstantinopels durch das osmanische Heer (1453) eine epochale Umbruchphase (Renaissance), in der eine Vielzahl von Ängsten das kollektive Lebensgefühl prägte (vgl. Kap. „Genuss. Rausch. Grenzüberschreitungen“). Vorherrschend war die Angst vor dem osmanischen Reich, und erst nach der erfolglosen zweiten Belagerung Wiens (1683) wich die Angst vor „den Türken“, gleichzeitig entwickelte sich die Verklärung des Orients zu einer romantischen Traumwelt (vgl. Budde/Sievernich 1989: 16).
Turquerie
Die „Tulipa Turcarum“, die „Tulpe der Türken“ wurde erstmals 1555 in Briefen eines Wiener Gesandten am Hof in Konstantinopel erwähnt. Sie wuchs wild auf der Halbinsel Krim und den umliegenden Regionen, wurde von dort in die Hauptstadt Konstantinopel gebracht und verkauft. Ein Botaniker des Kaisers Maximilian II. sollte die Pflanze nach Wien bringen, konnte dies aber wegen des Wiener Religionskampfs nicht, fand dann in Leiden / Holland eine Anstellung – und begründete so die holländische Tulpenkultur. Die steigende Nachfrage und eine „Tulpenmanie“ heizte die Spekulation an, bis irgendwann wachsender Import und zunehmende Entwicklung der Zucht neuer Varianten dazu führten, dass sich immer mehr Holländer diese Pflanze leisten konnten (Biesboer 1989: 288ff.). Das Symbol Hollands war geboren, verewigt in zahllosen Blumenstilleben.
„Das Türkische“ wurde im 17./18. Jahrhundert in der Malerei, Grafik und angewandten Kunst zu einer starken Modewelle, man nutzte „Arabesken“, die grafische Formensprache, „zum Ausdruck einer gesteigerten Lebensfreude und Repräsentationsentfaltung“ (Pape 1989: 307). So sind Themenwahl und Malstil des französischen Malers C. van Loo, z.B. mit seinem Bild „Einer Sultanin wird eine Tasse Kaffee von einer Sklavin überreicht“ (um 1747))[1] davon geprägt, dass mit den vertrauten europäischen Stilmitteln und einer „orientalischen Verfremdung“ gespielt wird. Es geht ihm nicht um ein Abbild türkischer Realität, sondern um ein „dekoratives Spiel“ mit Exotik (ebd.:311). Interessant ist hier sicherlich, wer hier wen bedient und in welcher Haltung bzw. wer welche Hautfarbe hat. Trotz des „dekorativen Spiels“ mit der Exotik vermittelt das Bild die Botschaft des Herrschaftsanspruchs der Weißen gegenüber den Schwarzen.
Die „Turquerie“ erfasste im 18. Jahrhundert vor allem den Adel, eine Vielzahl von Portraits von Herzoginnen und Ladies zeigen sie in türkischen Kleidern, - ein Medium des Spiels mit Exotik, der Repräsentation – und damit auch des Machtanspruchs ins Gesellschaftsinnere wie nach außen. Die „Türkischen Feste“ etwa am Hof in Dresden Anfang des 18. Jahrhunderts waren riesige Verkleidungsfeste, bei denen eine schwärmerische Bewunderung für den Sultan zum Ausdruck kam, der als Wachsfigur präsent war, umgeben von (verkleideten) Sklavinnen in seinem Harem. Eine solche Darstellung diente dazu, „den Glanz des eigenen höfischen Lebens noch zu steigern“ (Mikosch 1995: 243). Und doch ist interessant, dass etwa der Hofpoet bei einem solchen Fest einerseits Tapferkeit, Mut, Verstand und Loyalität zum Herrscher als positive Eigenschaften der Türken lobte, andererseits aber humorvoll die Überlegenheit der Europäer gegenüber den Türken deutlich machte, - alles gewürzt mit erotischen Anspielungen (ebd. 242). „Die kostbare exotische Kleidung sowie die Erotisierung des Türken verbunden mit den auf ihn projizierten (Wunsch)Vorstellungen einer ausschweifenden Genuß- und Sinnenfreude trugen wesentlich zur Beliebtheit dieser Rolle in den galanten Verkleidungsfesten bei. Der Türke bzw. allgemein der Orientale war für die Europäer weiterhin fremd, exotisch und faszinierend, aber nun ‚domestiziert‘ und damit harmlos.“ (Schnitzer 1995: 228).
Damit kommt sehr deutlich zum Ausdruck, was der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim (1990) mit dem Begriff „Phantasma“ bezeichnet: Eine Bilderwelt vom Anderen und Fremden, eine „Imagerie“, die ihre Dynamik aus dem „gesellschaftlich unbewusst Gemachten“ erhält. In seinem Konzept sind Narzissmus, Ambivalenz und Aggression die Schlüsselbegriffe, um diese Dynamik zu begreifen. Macht- und Herrschaftswünsche wie auch Selbstbezogenheit sind Kennzeichen von Narzissmus, verbunden mit hoher Verletzlichkeit und Verwundbarkeit. Um sich vor Letzterem zu schützen, wird eine Fassade von Selbstbewusstsein aufgebaut, alles verdrängt, was die (Schein)Sicherheit in Frage stellen könnte, und diese Ängste/“Teufel“ werden – vermittels einer Schwarz-Weiß-Brille, die keine Grautöne mehr sehen lässt - nun nach außen projiziert und dort bekämpft.
Am Beispiel der Ängste in der Zeit der Renaissance und der Hexenverfolgung (vgl. Kap. „Genuss. Rausch. Grenzüberschreitungen“) wurde zu zeigen versucht, inwiefern ein innerer Zusammenhang zwischen Ängsten, Verfolgung vom „Anderen / Fremden“ und der Eroberung der Welt durch die Kolonialmächte besteht. Die zunächst physische Aggression (gegen die Ureinwohnervölker, „Hexen“, Juden, Muslime ..) verstetigte sich zu einer strukturellen Gewalt, etwa einer, die in die Strukturen des Welthandels und Welternährungssystems eingeschrieben ist. Die Vernichtung von Ambivalenz durch Verdrängung oder Töten der Sündenböcke bringt natürlich keine Lösung, sondern verschärft den Teufelskreis dieser psychischen Dynamik auf der individuellen und des „gesellschaftlich unbewusst Gemachten“ (Erdheim) auf der kollektiven Ebene (vgl. Holzbrecher 1997:73ff.).
Die Ambivalenz ist als Unsicherheit, Unbestimmtheit, als etwas, das sich einer einfachen Zuordnung entzieht und unverfügbar bleibt, für viele schwer auszuhalten. Die Ambivalenz des Fremden und Andersartigen, dieses Oszillieren zwischen Angst und Faszination, zwischen Befremden und Befreunden, lässt je nach äußerer Situation mal die (verdrängten) Wünsche, mal die Ängste aus dem Vulkanschlot des Unbewussten aufsteigen und ausbrechen.
Wie erwähnt, flauten in Europa die Ängste gegenüber den Türken erst dann ab, als die militärische Übermacht des osmanischen Reichs gebrochen war, so dass ab dem Ende des 17. Jahrhunderts die Projektion der Wünsche stärker werden konnten. Schnitzer zeigt in ihrem Text „Zwischen Kampf und Spiel“ (1995) diese Übergangsphase am Dresdner Hof, wo einerseits Waffenspiele durchgeführt wurden (rückblickend als Bestätigung des militärischen Siegs über die Muslime), andererseits exotisch-erotische Wunschphantasien als zentrales Element der „türkischen Feste“ wirksam waren.
Letztere sollten die Orientbilder im 19. Jahrhundert bestimmen, als der „Orientalismus“ in vielen Kunstsparten zu einer unübersehbaren Strömung wurde, am offensichtlichsten in der Malerei mit den sog. „Odalisken“.
Vorab erscheint eine Feststellung notwendig, dass trotz verstärkter Reisetätigkeit niemals ein Maler aus Europa eine muslimische Frau etwa in einem Harem treffen und sie als Modell dienen konnte. Weiter ist interessant, dass Islamwissenschaftler im 19. Jahrhundert darüber aufklärten, „daß die meisten muslimischen Frauen vollkommen frei seien, zu kommen und zu gehen, daß sie weder unterdrückt noch ständig bewacht seien. Zudem hätten die Frauen in ihrem Haushalt eine erhebliche Autorität“ (Thornton 1989:345). Wir können also vorbehaltlos davon ausgehen, dass diese „Odalisken“ nichts über die Realität aussagen, aber alles über die Orientbilder des 19. Jahrhunderts, die Phantasmen Europas, in denen exotisch-erotische Wunschphantasien der männlichen Maler zum Ausdruck kamen.
In der Literatur wie in der Malerei zeigte sich im Orientalismus ein „Exotismus der Sinne“: Vor dem Hintergrund der Prüderie des viktorianischen Zeitalters in England oder einer antibürgerlichen Haltung französischer Literaten wurde auf den Orient eine „Traumwelt des Rausches und ekstatischer Visionen, des Sinnengenusses und unerhörter Ausschweifungen (projiziert), vor allem aber verkörperte sich in ihm die Phantasie der grenzenlosen Macht des Mannes über den weiblichen Körper“ (Kohl 1989: 360). Eine verbreitete Denkfigur war die des „männlich-geistigen“ Abendlands gegen den „weiblich-stofflichen Orient“, und mit der Parallelisierung der Ambivalenz der Geschlechterbeziehung und des Verhältnisses zwischen Orient und Okzident war klar, dass sie nur durch Herrschaft des Mannes über die Frau bzw. des Abendlands über den Orient zu lösen war (ebd.: 363f), - ein deutliches Beispiel für Mario Erdheims Konzept der Ethnopsychoanalyse mit den drei Schlüsselbegriffen Narzissmus, Ambivalenz und Aggression.
Bilder des Fremden
Wie wir am Beispiel der Orientalisten gesehen haben, sind sowohl Ängste als auch Wunschphantasien die Grundzutat der europäischen „Imagerie“ vom Orient, ein höchst ambivalentes Gemisch, das uns dazu führt, auf den/die/das Fremde*n
Das offensichtlichste und in der europäischen Kolonialgeschichte verbreitetste negative Gegenbild ist die beschriebene Sündenbockprojektion bzw. zahllose versteckte oder offene Formen von Rassismus, der – durch die Kolonialmächte strukturell abgesichert – als dominante Form der Wahrnehmung des Fremden in die europäische Kulturgeschichte einging: Der Kolonisierte wurde als „unzivilisiert“ gesehen, als jemand, dem man sich überlegen fühlte, den man beherrschen und „zivilisieren“ muss. Und so war die „zivilisatorische Mission“ die zentrale Rechtfertigungsideologie der französischen Kolonialherrschaft. In allen europäischen Ländern, vor allem in denen mit einer Kolonialgeschichte, ist also der Rassismus eine ideologische Konstante der Kulturgeschichte. Ein Beispiel für positive Gegenbilder sind etwa Utopien wie das „Schlaraffenland“, das Land des Überflusses und des gleichen Zugangs zu Nahrungs- und Genussmitteln, die in der europäischen Kulturgeschichte besonders dann stark wurden, wenn wieder einmal eine Hungersnot herrschte (vgl. Richter 1995).
Entsprechend der Schwarz-Weiß-Logik solcher Gegenbilder ist dem Pol „Verteufelung“ der der „Verengelung“ entgegengesetzt. Und offenbar bewirkt die psychische Dynamik, dass unsere Wahrnehmung von ambivalenten Beziehungen schnell von einem Pol zum anderen springen kann, d.h. Wunschbilder in Angstbilder kippen - und umgekehrt. Wie wir im zwischenmenschlichen Bereich eine geliebte Person bei Eintritt bestimmter Ereignisse plötzlich abgrundtief hassen können, kann das „Image“, die „Imagerie“ zwischen zwei Kulturen schnell von einem Pol zum anderen springen, eine vormals bewunderte Region, ein „Traumziel“, wird dann in ein düstereres Licht getaucht.
Die erwähnte zweite Möglichkeit, Fremde*s als eine Bereicherung zu sehen, kann als Variante der ersten gesehen werden. So hat der Philosoph Rousseau im 18. Jahrhundert die „Naturvölker“ als (noch) von der Zivilisation unverdorben verherrlicht, und der Maler Gauguin flüchtete in die Südsee im Glauben, die Menschen dort verkörperten etwas, das in der westlichen Zivilisation verloren gegangen ist. Obwohl der bei der Konfrontation seiner Imagerie mit der Realität ent-täuscht war, malte er schöne und harmonische Idealbilder.
Begegnen wir einem Menschen aus einem fremden Kulturraum, sind sofort – und noch bevor ein mögliches Gespräch beginnt - die Bilder da. Auch wenn wir mit politischem Blick die Länder des arabischen Kulturraums differenziert betrachten, wirkt – so meine These – die Imagerie des ästhetischen Orients noch heute in unseren Köpfen. Denn unsere Bilder des Fremden sind nicht nur durch biographische Erlebnisse geprägt, vielmehr sind diese in gesellschaftliche und kulturgeschichtliche Kontexte eingebettet. Die allerdings können Spuren von Rassismus, Überlegenheitsattitüden oder Herrschaftsansprüchen enthalten.
Gerade angesichts der 2000 Jahre gemeinsamer Kulturgeschichte rund ums Mittelmeer (vgl. Abulafia 2013), die von Konflikten wie auch von friedlicher Begegnung und Kulturkontakt durchzogen ist, bietet sich eine andere Form der Wahrnehmung des Fremden an, bei der das Eigene / Vertraute und das Fremde wechselseitig als Figur und Hintergrund verstanden wird:
Der/die/das Fremde wird damit zur Gelegenheit, mich selbst, meine eigene Identität klarer zu sehen, Eigenes und Fremdes werden wechselseitig zur Figur und zum Hintergrund – und es wird möglich, das Andere anders sein lassen zu können, weil der psychische Druck wegfällt, eigene Schwächen auf den/die/das Fremde zu projizieren. Das gilt auf der zwischenmenschlichen Ebene ebenso wie im Kontakt mit fremden (bzw. fremd erscheinenden) Kulturen, wie wir gesehen haben. Das Wahrnehmungsmuster „Figur – Hintergrund“ macht auch deutlich, dass persönliche, zwischenmenschliche wie auch interkulturelle Entwicklung notwendigerweise das Fremde als Ferment braucht, um dynamisch und lebendig zu bleiben.
Literatur:
Abulafia, David (2013): Das Mittelmeer. Eine Biographie, Frankfurt (Fischer TB)
Biesboer, Pieter (1989): „Tulipa Turcarum“: Über die „Tulipomania“ in Europa, in: Sievernich, Gereon / Hendrik Budde (Hg.), Europa und der Orient 800-1900 (Ausstellung des 4.Festivals der Weltkulturen Horizonte 89, Berlin (Berliner Festspiele / Bertelsmann Lexikon Verlag), S.288-294
Budde, Hendrik/Sievernich, Gereon (1989) Europa und der Orient 800-1900: Vorbemerkung, in: Sievernich, Gereon / Hendrik Budde (Hg.), Europa und der Orient 800-1900 (Ausstellung des 4.Festivals der Weltkulturen Horizonte 89, Berlin (Berliner Festspiele / Bertelsmann Lexikon Verlag), S. 15f.
Erdheim, Mario (1990): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß, Frankfurt [1984]
Holzbrecher, Alfred (1997): Wahrnehmung des Anderen. Zur Didaktik interkulturellen Lernens, Opladen (Leske+Budrich)
Kohl, Karl-Heinz (1989): „Cherchez la femme d’Orient“, in: Sievernich, Gereon / Hendrik Budde (Hg.), Europa und der Orient 800-1900 (Ausstellung des 4.Festivals der Weltkulturen Horizonte 89, Berlin (Berliner Festspiele / Bertelsmann Lexikon Verlag), S.356-367
Mikosch, Elisabeth (1995): Ein Serail für die Hochzeit des Prinzen. Turquerien bei den Hochzeitsfeierlichkeiten in Dresden im Jahre 1719, in: Staatliche Kunstsammlungen Dresden / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (Hg.), Im Lichte des Halbmonds. Das Abendland und der türkische Orient, Dresden/Bonn, S. 235-243
Paczenski, Gert v./Dünnebier, Anna (1999): Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, München (Orbis)
Pape, Maria Elisabeth (1989): Turquerie im 18. Jahrhundert und der „Receuil Ferriol“, in: Sievernich, Gereon / Hendrik Budde (Hg.), Europa und der Orient 800-1900 (Ausstellung des 4.Festivals der Weltkulturen Horizonte 89, Berlin (Berliner Festspiele / Bertelsmann Lexikon Verlag), S.305-323
Richter, Dieter (1995): Schlaraffenland. Geschichte einer populären Utopie, Frankfurt (Fischer TB)
Schaefer, Udo (1995): Der Islam. Eine Einführung, in , in: Staatliche Kunstsammlungen Dresden / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (Hg.), Im Lichte des Halbmonds. DasAbendland und der türkische Orient, Dresden/Bonn, S.15-28
Schnitzer, Claudia (1995): Zwischen Kampf und Spiel. Orientrezeption im höfischen Fest, in: Staatliche Kunstsammlungen Dresden / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (Hg.), Im Lichte des Halbmonds. Das Abendland und der türkische Orient, Dresden/Bonn, S.227-234
Soentgen , Jens (2006): Bio, Transfair und mehr: Die Kaffeewelt seit den 1950er Jahren bis heute, in: Heinrich Eduard Jacob, Kaffee. Die Biographie eines weltwirtschaftlichen Stoffes [1934], München (oekom), S. 315-357
Thornton, Lynne (1989): Frauenbilder: Zur Malerei der „Orientalisten“, in: Sievernich, Gereon / Hendrik Budde (Hg.), Europa und der Orient 800-1900 (Ausstellung des 4.Festivals der Weltkulturen Horizonte 89, Berlin (Berliner Festspiele / Bertelsmann Lexikon Verlag), S.342-355