Überlebensmittel Kultur

 

 … hatte im Frühjahr 2020 jemand mit Kreide auf den Dreisam-Fahrradweg an der Sandfangbrücke in Freiburg geschrieben. Eine sehr treffende und aktuelle Frage. Die Kontaktbeschränkungen im Corona-Lockdown erleben viele als gravierenden Verlust von Lebensqualität und Lebensfreude. Keine Konzerte, Umarmungen, kein Chor, keine Musikmach-Abende mit Freunden, - da wird es sehr schwierig, den Energiespeicher aufzufüllen. Aber Jammern ist keine Lösung, man ist gezwungen, sich neu zu erfinden und die Krise als Chance für eine Veränderung wahrzunehmen. Zumindest erkennen wir die große Bedeutung von Kultur nicht nur für unsere Lebensqualität, sondern auch und besonders für die Gesellschaft und die Demokratieentwicklung.

 

In der derzeitigen Krise geht es um eine epochale Entwicklungsaufgabe. Unser Alltag, unsere Gesellschaftsordnung, in der wir uns in einer Komfortzone eingerichtet hatten, dürfte sich stark verändern. Unsicherheit, Ambivalenz, existenzielle Ängste und Fremdheitserfahrungen nehmen zu. In solchen Zeiten können wir mit dem Finger auf vermeintliche böse Andere und Schuldige zeigen, politisch oder verschwörungstheoretisch verschwurbelt. Oder wir kompensieren unsere Angst und Unsicherheit durch eine Flucht in Geschäftigkeit, alternativ können wir den Kopf in den Sand stecken, uns mit Oberflächlichem ablenken oder betäuben. Bewährt ist auch der Rückfall in und die Sehnsucht nach dem vermeintlich besseren Gestern, wir können Zuflucht suchen in einfachen Antworten oder denen nachlaufen, die sie predigen. Ebenso häufig ist, dass man im Nationalismus Halt sucht und/oder im Ego, das man mit hohen Mauern schützen möchte. Wer sich unsicher fühlt, braucht zur Selbst-Stabilisierung die Degradierung und Entwertung des Anderen, Ursprung rassistischer Haltungen. Die Hating-Unkultur in den (A)Sozialen Medien nehmen jetzt schon stark zu. Was blüht uns da? Oder treffender: Was geht da zu Bruch? Es geht also nicht nur darum, individuell mit Einsamkeit, Ängsten und Depressionen besser umzugehen zu lernen, sondern vor allem um eine große gesellschaftliche Aufgabe.

 

 

Unser in den letzten Jahrzehnten entwickeltes, lebendiges Kulturleben zeigt Wege auf, sich und die eigene Um- und Mitwelt neu zu denken. Die kreative und spielerische Suche nach neuen Bildern, nach Visionen des Zusammenlebens hat unserer Demokratie einen kaum zu überschätzenden Dienst erwiesen. Die These sei gewagt: Vor allem ein breites und alle Bevölkerungsgruppen einbeziehendes Kulturleben garantiert das Überleben der Demokratie. Denn Musik, Tanz, Theater, Kreatives Schreiben, Filmen und Fotografieren sind nicht nur ein nice to have, sondern die wichtigsten Produktionsmittel, um individuelle und auch gemeinsame Suchbewegungen zu entwickeln. Ein diffuses Gefühl von Angst und Unsicherheit nach außen tragen, etwa in Form eines Fotos, eines kreativen Textes, einer musikalischen Improvisation oder einer tänzerischen Darstellung, ermöglicht, eben dieser Gefühlsqualität eine Gestalt zu geben.

 

Erfahrungen aus der Bildungsarbeit zeigen, dass gerade das spielerische Moment die Suche nach neuen Wegen aus der Krise begünstigt.

Oft kann beobachtet werden, dass schon das „Von innen nach außen Tragen“ eines diffusen Gefühls dieses reinigt oder klärt. Mit dem Schreiben werden Begriffe gefunden, die die eigene Angst begreifen lassen. Aufschreiben, was einen bedrückt, auf die Pauke hauen (Trommeln), Wut rausschreien (Chor), körperlich darstellen (Tanz/Pantomime..) oder mit einem Instrument seine Gefühle ausdrücken, - all diese kulturellen Aktivitäten lösen angstbesetzte Fixierungen und reduzieren die Gefahr, eigene Ängste und Unsicherheit auf Andere und Fremde/s zu projizieren und bei ihnen zu bekämpfen.